Vergleichende Forschung zum türkischen Recht

Vergleichende Forschung zum türkischen Recht

Juristische Grenzen, Übergänge und Verbindungslinien

8. Oktober 2025

Die Beziehungen der Türkei und ihrem Vorgängerstaat, dem Osmanischen Reich, mit Europa reichen weit in die Geschichte zurück. Inzwischen ist das Land einer der größten Handelspartner und gleichzeitig Beitrittskandidat der Europäischen Union. Das türkische Recht zählt zu den wichtigsten ausländischen Rechtsordnungen, mit denen sich die juristische Praxis in Deutschland und der EU auseinandersetzt. „Ebenso groß ist die Relevanz des deutschen und europäischen Rechts für die Türkei“, sagt Biset Sena Güneş, Leiterin des Kompetenzzentrums Türkei am Institut. Sie forscht zum internationalen Privat- und Verfahrensrecht, zum Familien- und Erbrecht sowie zum Wirtschaftsrecht der Türkei, Deutschlands und der EU in vergleichender Perspektive.

Als das Kompetenzzentrum im Jahr 2021 ins Leben gerufen wurde, lag der Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei genau 60 Jahre zurück. Türkische Staatsbürger*innen bilden heute die zweitgrößte Gruppe von Drittstaatsangehörigen innerhalb der EU. Ihre überwiegende Mehrheit lebt in Deutschland. Seit vielen Jahren pflegt das Institut einen intensiven Austausch mit türkischen Jurist*innen aus Wissenschaft und Praxis. So fand hier 1986 die Gründungssitzung der Deutsch-Türkischen Juristenvereinigung statt, mit der das Haus seither eine enge Zusammenarbeit verbindet. Außerdem kommen jedes Jahr zahlreiche türkische Gastwissenschaftler*innen nach Hamburg, um am Institut zu forschen.

Wissenschaftliche Anknüpfungspunkte

Vor dem Hintergrund einer vermehrt pluralistischen globalen Rechtslandschaft bietet das türkische Recht viele wissenschaftlich interessante Anknüpfungspunkte. Die Türkei gehört zu den wenigen muslimisch geprägten Ländern mit einer Rechtsordnung nach westlich-säkularem Vorbild. Nach der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 erfolgte im Zuge der kemalistischen Reformen die Aufhebung des bis dahin geltenden islamischen Rechts. Eine Übersetzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches wurde die Grundlage für das 1926 in Kraft getretene türkische Zivilgesetzbuch. Heute zeichnet sich in der Türkei eine dynamische Rechtsentwicklung ab, die unter anderem die für einen EU-Beitritt erforderlichen Anpassungen des Normenbestandes zum Ziel hat.

Transfer in die Praxis

Von großer Bedeutung für die deutsche Rechtspraxis ist das Privatrecht der Türkei. Aufgrund der migrationsbedingten Verflechtung müssen deutsche Gerichte häufig türkisches Recht anwenden und nehmen dazu oft die Hilfe von Sachverständigen in Anspruch. Die Erstellung von Gerichtsgutachten gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Kompetenzzentrums. Ziel dieser Gutachten ist es, die im jeweiligen Beweisbeschluss gestellten juristischen Fragen zu beantworten. Diese erstrecken sich über eine Vielzahl von Rechtsgebieten.


„Die großen Themen unserer Zeit entfalten sich weitgehend
unabhängig von nationalen Grenzen. Deshalb ist es für Forschende so wichtig, international vergleichend nach Lösungen zu suchen.“

– Biset Sena Güneş –


Hochkomplex und gleichzeitig konfliktbeladen sind die Materien Familienrecht und Erbrecht. Häufig stellt sich die Frage, ob eine wirksame Ehe besteht oder welche Ansprüche nach einer Scheidung geltend gemacht werden können. Nicht selten werden türkische Ehegatten in der Türkei geschieden, tragen ihre güterrechtliche Auseinandersetzung aber vor deutschen Gerichten aus. Im Erbrecht stehen regelmäßig Fragen zur Wirksamkeit eines Testaments gemäß türkischem Recht sowie zur Haftung der Erben für Nachlassverbindlichkeiten im Vordergrund. Besonders herausfordernd sind Spezialgebiete, wie etwa das türkische Sozialversicherungsrecht, das Medizinrecht oder das internationale Gesellschaftsrecht.

Internationales Forum für aktuelle Themen

Güneş hat sowohl die türkische als auch die europäische Rechtsentwicklung im Blick. Sie hat das Kompetenzzentrum Türkei zu einer internationalen wissenschaftlichen Plattform ausgebaut. In der von ihr 2022 ins Leben gerufenen Online-Seminarreihe „Aktuelle Forschung zum türkischen Recht“ stellen profilierte türkische Rechtswissenschaftler*innen ihre Themen vor. Auf eine 30- bis 40-minütige Präsentation folgt eine Fragerunde, die jedes Mal zu lebhaften Diskussionen und einem vertieften Austausch führt. Das Format richtet sich an international Forschende, die sich für türkisches Recht interessieren, und erfreut sich großer Beliebtheit.

Der Erfolg der Reihe liegt auch in der Offenheit für eine große Themenvielfalt. Im Mittelpunkt der bisher 16 Veranstaltungen standen so unterschiedliche Beiträge wie beispielsweise der rechtliche Status von auf Blockchain-Technologie basierenden dezentralen autonomen Organisationen (DAO), die Rechtsprechung zu internationalen Schiedsvereinbarungen im Vergleich Schweiz–Türkei oder Anpassungen des türkischen Datenschutzrechts an die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).

Vielseitige Expertise

Diese breit gefächerte Ausrichtung entspricht dem vielseitigen fachlichen Profil, das Güneş in ihre Tätigkeit am Institut einbringt. Die in der Türkei, Großbritannien und Deutschland ausgebildete Rechtswissenschaftlerin befasste sich in ihrer Dissertation mit international-privatrechtlichen und international-prozessrechtlichen Konflikten in deutsch-türkischen und türkisch-europäischen Erbfällen. In einer rechtsvergleichenden Analyse untersuchte sie die EU-Erbrechtsverordnung (EU-ErbVO) aus Sicht des Drittstaates Türkei. Fragen des grenzüberschreitenden Erbrechts in Europa haben, so betont sie, eine globale Dimension. „Erbrechtsangelegenheiten mit internationalem Bezug sind keine Rarität, und es ist zu erwarten, dass ihre Zahl in den kommenden Jahren deutlich steigen wird“, sagt Güneş. „Rund fünf Prozent der Menschen, die in der EU leben, haben keine EU-Staatsangehörigkeit. Hinzu kommen die vielen EU-Bürger*innen, die im Rahmen der Doppelstaatsbürgerschaft noch eine außereuropäische Staatsangehörigkeit besitzen, ganz zu schweigen von den EU-Bürger*innen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der EU haben. Die Analyse der EU-Regelungen aus der Sicht eines Drittstaates ist daher für die Rechtspraxis insgesamt von Nutzen.“ 

Derzeit befasst Güneş sich in ihrer Forschung unter anderem mit dem Familienrecht, insbesondere dem Adoptions- und Erbrecht, sowie dem Asylrecht und dem Nachhaltigkeitsrecht. Hier setzt sie einen Schwerpunkt auf Wirtschaft und Menschenrechte, Klimaklagen sowie Schnittstellen zwischen globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten und dem internationalen Privatrecht. „Die großen Themen unserer Zeit entfalten sich weitgehend unabhängig von nationalen Grenzen. Deshalb ist es für Forschende so wichtig, international vergleichend nach Lösungen zu suchen“, sagt die Wissenschaftlerin.

Engagement im Mentoring

Seit zwei Jahren engagiert Güneş sich auch als Mentorin. Im Rahmen des von der Max-Planck-Gesellschaft getragenen Projekts MAXMINDS berät sie Bachelor- und Masterstudierende, die von dem schweren Erdbeben betroffen sind, das Anfang 2023 die Türkei und Syrien erschütterte. In Online-Treffen gibt sie ihren Mentees Orientierungshilfe für einen erfolgreichen Studienabschluss und mögliche Berufswege im Ausland. Was als kurzfristige Hilfsinitiative begann, entwickelt sich nun mit MAXMINDS 2.0 zu einem zeitlich und räumlich erweiterten Mentoring-Programm für junge Forschende, einschließlich Doktorand*innen und Postdocs, aus Krisenregionen auf der ganzen Welt. Für Güneş steht bereits fest, dass sie ihr Engagement fortsetzen wird.






Bildnachweise

Headergrafik:
Bosporus-Brücke: © AdobeStock, Natalia
Altes Gebäude der Großen Nationalversammlung der Türkei: © Shutterstock, GUL ARI

Porträt Biset Sena Güneş: 
© Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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