Rechtsformneuschöpfungen im Gesellschaftsrecht

Rechtsformneuschöpfungen im Gesellschaftsrecht

16. Januar 2025

Gesellschaftsformen bilden die Essenz des Gesellschaftsrechts. Sie prägen nicht nur die Anschauungen der Wirtschaftspraxis, sondern bestimmen auch den Aufbau der Lehrbücher. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts blieb der gewachsene Normenkanon des Personengesellschafts- und Körperschaftsrechts nahezu unverändert. Diese lange Phase „gesetzgeberischer Ruhe“ hielt bis gegen Ende der 1970er-Jahre an. „In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist eine enorme Entwicklungsdynamik greifbar geworden“, sagt Institutsdirektor Holger Fleischer. Ein neuer Sammelband aus seiner unternehmensrechtlichen Arbeitsgruppe am Institut untersucht, welche Bereicherungen das Rechtsformentableau in jüngerer Zeit erfahren hat.

Als Reformgesetzgeber rund um den Globus begannen, neue Gesellschaftsformen gleichsam aus der Retorte zu erschaffen, hatten die „alten Handelsgesellschaften“ längst ihre heutige Gestalt angenommen. Mit den in der „prägenden Periode“ von 1861 bis 1900 entstandenen Personengesellschaften, AG, GmbH, Genossenschaft und Verein schien, so Fleischer, das hiesige Gesellschaftsrecht für die Anforderungen des modernen Wirtschaftslebens gut gerüstet. Seither ist das weltweite Angebot an Rechtsformen rasant gewachsen und differenziert sich immer weiter aus. So ist ein Innovationsprozess in Gang gekommen, der auch in Deutschland neue Impulse gesetzt hat.

Globale Bandbreite

„Für die gesellschaftsrechtliche Grundlagenforschung war es ein lohnendes Unterfangen, dieses globale Phänomen unter die Lupe zu nehmen“, sagt der Rechtswissenschaftler und Ökonom Fleischer. „Durch akribische Einzelstudien konnten wir ein facettenreiches Bild des Ideenreichtums in- und ausländischer Reformgesetzgeber mitsamt ihren Wegbereitern aus Unternehmenspraxis, Anwaltschaft, Notariat, Rechtspolitik und Rechtswissenschaft zeichnen.“
 


„Durch akribische Einzelstudien konnten wir ein facettenreiches Bild des Ideenreichtums in- und ausländischer Reformgesetzgeber mitsamt ihren Wegbereitern aus Unternehmenspraxis, Anwaltschaft, Notariat, Rechtspolitik und Rechtswissenschaft zeichnen.“

– Institutsdirektor Holger Fleischer –


Untersuchungsgegenstand des rechtsvergleichend angelegten Projekts sind wegweisende Beispiele für Rechtsformneuschöpfungen auf dem Feld privatrechtlicher Assoziationsformen, deren Entstehen und Entwicklung im Einzelnen aufbereitet werden. Die international zusammengesetzte Autorenschaft der rund 750 Seiten umfassenden Publikation besteht aus aktuellen und ehemaligen Mitarbeitenden des Instituts sowie dem Institut freundschaftlich verbundenen Mitwirkenden. Sie spannen einen weiten Bogen und nehmen auch außereuropäische Innovationsprozesse in den Blick. Fünf der insgesamt 22 „Schöpfungsgeschichten“ stammen aus den Vereinigten Staaten. Mit Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich kommen die traditionellen Leitrechtsordnungen Europas zu Wort, außerdem Italien, Polen, Griechenland, Liechtenstein und Österreich. Beiträge zu Japan und Singapur werfen Schlaglichter auf die Entwicklung in Asien.

Beispielhafte Hybridkonstruktion

„In der rechtsvergleichenden Makroperspektive ist das Gesellschaftsrecht der US-Bundesstaaten ein klarer Innovationstreiber“, stellt Fleischer fest. Mit dem Inkrafttreten des Limited Liability Company Act in Wyoming am 3. März 1977 wurde der Wettbewerb der Gesellschaftsformen in den USA neu entfacht. Jahrzehntelang hatte die corporation darin den unangefochtenen Spitzenplatz belegt, als die Geburtsstunde der limited liability company (LLC) schlug. Diese erwies sich als attraktive Mischform aus Elementen der beiden hergebrachten Grundmodelle partnership und corporation.

Die neue Rechtsform fand zunächst nur auf lokaler Ebene Beachtung, und selbst dort wurde ihr keine große Zukunft prophezeit. Niemand konnte sich vorstellen, welchen Siegeszug sie innerhalb von nur 20 Jahren weit über Wyomings Grenzen hinaus antreten sollte. Bereits Ende 1996 hatten im föderalen US-amerikanischen Gesellschaftsrecht sämtliche Bundesstaaten sowie der District of Columbia eigene Versionen des LLC Act verabschiedet.

Inzwischen hat die LLC mit ihrem hybriden Charakter zwischen Personen- und Kapitalgesellschaft die corporation als beliebteste Gesellschaftsform abgelöst. Schätzungen zufolge sind heute 70 Prozent aller in den USA neu gegründeten Gesellschaften als LLC organisiert. Außerdem hat ihr Erfolg die Entstehung weiterer gesellschaftsrechtlicher Neuschöpfungen angestoßen. So war sie Vorbild für die 1991 in Texas eingeführte Unternehmensform limited liability partnership (LLP) sowie die inzwischen in der Mehrheit der US-Bundesstaaten anerkannte limited liability limited partnership (LLLP).

Innovationsfähigkeit und Innovationskraft

Die interdisziplinäre Innovationsforschung unterscheidet verschiedene Stadien, beginnend mit der Idee zur Erfindung und ersten Nutzbarmachung bis zu ihrer erfolgreichen Verbreitung. Ähnliche Einteilungen finden sich in der betriebswirtschaftlichen Literatur zum Prozess der Produktinnovation. „In der gesellschaftsrechtlichen Forschung lassen sich für kautelarjuristische Neuschöpfungen vier Phasen beschreiben: die Identifizierung eines rechtspraktischen Bedürfnisses, die Kreierung einer neuartigen Rechtsfigur, gefolgt von der Standardisierung durch Vertragsmuster und Formularbücher. Der Rechtspraxis schließlich kommt die Ausdifferenzierung des kautelarjuristischen Basisangebots zu, insbesondere durch konkrete Vertragsgestaltung“, erklärt Fleischer. „Dieser Analyserahmen ist auch auf den Werdegang der LLC und vieler anderer Rechtsformneuschöpfungen im Gesellschaftsrecht anwendbar.“


„Als Entwicklungstreiber und Erfolgsfaktoren spielen Impulse aus der
Unternehmenspraxis eine maßgebliche Rolle, ebenso wie steuerliche Vorteile.
Außerdem gibt es immer einen wirtschaftlichen Kontext, der für
günstige Entstehungsbedingungen sorgt.“

– Institutsdirektor Holger Fleischer –


Bei der rechtspolitischen Betrachtung der einzelnen Rechtsforminnovationen kommt laut Fleischer ebenfalls eine Reihe gemeinsamer Aspekte zum Tragen. „Als Entwicklungstreiber und Erfolgsfaktoren spielen Impulse aus der Unternehmenspraxis eine maßgebliche Rolle, ebenso wie steuerliche Vorteile. Außerdem gibt es immer einen wirtschaftlichen Kontext, der für günstige Entstehungsbedingungen sorgt.“

Weiterführende Perspektiven

In der Gesamtschau der einzelnen Kapitel des Sammelwerks wird ein internationaler Marktplatz der Rechtsformideen erkennbar. So zirkulieren etwa auf europäischer Ebene derzeit Vorschläge für eine société européenne simplifiée (SES), während in der Schweiz über eine société durable diskutiert wird. Unter anderem in Deutschland sind Ideen über ein spezielles Rechtskleid für Sozialunternehmen sowie über einen gesetzlichen Status oder private Zertifizierungen für nachhaltige Unternehmen im Umlauf.

„Rechtsformneuschöpfungen sind ein Paradebeispiel für gesellschaftsrechtliche Innovationen. Sie eröffnen den Zugang zu einem noch kaum erschlossenen unternehmensrechtlichen Forschungsfeld“, sagt Fleischer. „Aus der Fülle der Einzelstudien ergeben sich erste Antworten auf bisher vernachlässigte Grundsatzfragen. Dazu zählen die Gelingensbedingungen für neue gesellschaftsrechtliche Gussformen ebenso wie der nationale und internationale Rechtsformenwettbewerb oder die optimale Anzahl von Gesellschaftsformen.“

Abschließend nennt Fleischer die verschiedenen Quellen, aus denen sich neue Ideen für Unternehmensformen im Wesentlichen speisen: Neben einem Trend zu hybriden Formen und neuen Konzepten für kleine und mittlere Unternehmen, insbesondere Start-ups, sowie experimentellen Ansätzen für die Blockchain-Welt gibt es eine Suche nach neuen rechtlichen Gefäßen für nachhaltiges Wirtschaften und Social Entrepreneurship. Hinzu kommen supranationale Rechtsformen für den europäischen Binnenmarkt, unternehmensverbundene Stiftungen und Business Trusts.

 

Holger Fleischer (Hrsg.), Rechtsformneuschöpfungen im in- und ausländischen Gesellschaftsrecht (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht, 141), Mohr Siebeck, Tübingen 2024, XXXII + 759 S.


 



Bildnachweise:

© Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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