Wissenschaft in Bildern und Geschichten

Wissenschaft in Bildern und Geschichten

2. Oktober 2024

Die Young Academy Fellows der Akademie der Wissenschaften in Hamburg nutzen seit einigen Jahren Science Comics, um ihre Forschungsthemen vorzustellen. Katharina Isabel Schmidt, wissenschaftliche Referentin am Institut und Young Academy Fellow, hat gemeinsam mit der Künstlerin Hannah Brinkmann einen Comic entwickelt. In wenigen Worten und starken Bildern erzählen sie einen Fall aus der französischen Justizgeschichte, der bis heute zu denken gibt. „Die kleine Brotdiebin vor Gericht“ illustriert den für die moderne Rechtsphilosophie zentralen Konflikt zwischen geschriebenem Recht und gelebter Gerechtigkeit.

In einem französischen Dorf im Jahr 1898 nahm sich die junge Mutter Louise Ménard einen Laib Brot aus einem Bäckerladen, ohne zu bezahlen. Die notleidende Frau hatte zwei Tage lang nichts gegessen. Der schon zu seiner Zeit als „guter Richter“ bekannte Paul Magnaud sprach sie vom Vorwurf des Diebstahls frei. Seine Begründung: Wer Hunger hat, den trifft keine Schuld. Der Buchstabe des Gesetzes muss hier hinter den Geist der Gerechtigkeit zurücktreten.

Hannah Brinkmann hat sich in ihrer künstlerischen Arbeit schon häufig mit politischen Themen auseinandergesetzt. „Gerade bei Rechtsthemen sind Protagonist*innen wichtig, um eine Problematik zu verstehen. Ich fand die Begebenheit und ihren Bezug zu heute sofort interessant“, beschreibt sie ihren Einstieg in den Fall der jungen Mutter. Eine besondere Herausforderung bestand darin, in wenigen Bildern eine Geschichte zu erzählen. Ein Vorbild für die kreative Umsetzung fand sie in den Broadsides, einem visuellen Format aus dem 19. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um Straßenplakate, auf denen in eindrucksstarken Worten und Bildern über Kriminalfälle berichtet wurde.

„Als Rechtshistorikerin erzähle ich auch Geschichten über das Recht“, sagt Katharina Schmidt. Sie hat den Prozess gegen die „kleine Brotdiebin“ in einem wissenschaftlichen Aufsatz analysiert. „Es handelt sich dabei um einen für die Rechtsphilosophie enorm wichtigen Fall. Anhand dieser Geschichte lässt sich ein hoch abstrakter Konflikt verständlich machen. Der Freispruch durch den ‚guten Richter‘ wirft die Frage auf, wie weit das geschriebene Recht der Lebenswirklichkeit und den Überzeugungen der Menschen gerecht werden kann.“

Wie hat sich Hannah Brinkmann dem Thema genähert? „Ein Gerichtssaal ist ein spannender Schauplatz. In einem geschlossenen Raum werden Dinge verhandelt, die unser Leben – im positiven wie im negativen Sinn – tiefgreifend beeinflussen können. Die Zeichnung ermöglicht es, diese beiden Ebenen, also die Gefühlsebene und die persönliche Tragweite, in die Darstellung der Verhandlung einzuweben.“

„Wissenschaftscomics eignen sich besonders gut, um von den kleinen Akteur*innen und deren Beitrag zur Rechtsgeschichte und zu Reformen zu erzählen. Oft wird unterschlagen, dass hinter solchen Entwicklungen gewöhnliche Menschen stehen“, sagt Katharina Schmidt. „Die Frage der Rechtssicherheit war Ende des 19. Jahrhunderts ein riesiges Thema. Es war die Epoche, in der in Europa die großen Gesetzeskodifikationen entstanden und die Gefahr gesehen wurde, das Recht könnte hinter den Entwicklungen des modernen Lebens zurückbleiben. Der Fall der Brotdiebin wurde nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und den USA von der Presse aufgegriffen. Auch von ‚Rechtsanarchie‘ und ‚Richteranarchie‘ war die Rede. Die Polarisierung reichte bis in die allgemeine Öffentlichkeit.“
 


„Wissenschaftscomics eignen sich besonders gut, um von den
kleinen Akteur*innen und deren Beitrag zur Rechtsgeschichte
und zu Reformen zu erzählen. Oft wird unterschlagen, dass hinter
solchen Entwicklungen gewöhnliche Menschen stehen.“

– Katharina Isabel Schmidt –


Wie war die Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft? „Ich habe zunächst ein Storyboard entworfen. Es war wichtig, dass wir Louise Ménard als Person einführen, damit man sich als Leser*in im nachfolgenden Prozess in sie hineinversetzen und ihre Tat nachvollziehen kann. Außerdem wollten wir die Prozesssituation ausarbeiten und so Parallelen zur Gegenwart ziehen“, sagt die Künstlerin. „Ich habe Beispiele gesucht, die veranschaulichen, wo sich die Problematik heute zeigt“, ergänzt die Wissenschaftlerin. „Und das sind Themen wie etwa die Opioid-krise oder das Engagement für die Seenotrettung. Wir wollten also Situationen zeigen, in denen sich eine Fragestellung herauskristallisiert, ohne Antworten vorzugeben. Die Betrachter*innen sollen dazu angeregt werden, sich ihre eigenen Gedanken zu machen.“

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Infografik und einem Science Comic? „Infografiken sind dazu da, Wissen zu vermitteln. Sie haben nicht unbedingt den Anspruch, jemanden auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Ein Comic hingegen erzählt eine Geschichte. Geschichten nehmen die Menschen mit, lösen Mitgefühl aus und können offene Fragen deutlich machen. In Kombination mit der erzählenden Zeichnung eröffnet der Comic gerade in wissenschaftlichen Kontexten viele Möglichkeiten“, erklärt Hannah Brinkmann.

Katharina Schmidt nimmt aus diesem Projekt Inspiration für ihre Arbeit mit: „Jurist*innen neigen dazu, zu verlangen: ,Sag mir klipp und klar, was ich hier sehen soll.‘ Die Verbindung aus Text und Bild lässt aber Spielraum für Interpretation. Mir hat der Prozess, mit dem wir von der abstrakten Idee zu konkreten Bildern gelangt sind, gut gefallen. Ich verwende beim Verfassen wissenschaftlicher Texte natürlich auch Sprachbilder. Nach dieser Erfahrung versuche ich, beim rechtsphilosophischen Denken und Schreiben noch bildhafter zu werden. Ideal wäre es manchmal, so zu schreiben, dass man das Geschriebene auch malen könnte.“
 


Literatur

Katharina Isabel Schmidt, The Case of the Little Bread Thief, Or: Free Legal Reasoning – A History, in: Christoph Bezemek, Michael Potacs, Alexander Somek (Hrsg.), Vienna Lectures on Legal Philosophy, Bd. 3: Legal Reasoning, Hart Publishing, Oxford 2023, 121–131.

 




Porträt Katharina Isabel Schmidt: © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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