Zukunftsmodell soziales Unternehmertum

Zukunftsmodell soziales Unternehmertum

Juristische Vermessung eines neuen Wirtschaftssektors

19. Juli 2024

Gesellschaftlichen Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln zu begegnen, liegt weltweit im Trend. Von der Bekämpfung von Obdachlosigkeit über die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bis hin zum Schutz der Regenwälder – eine wachsende Zahl von Sozialunternehmen wird vom Engagement für solche Ziele getragen. Besonders in der jüngeren Gründergeneration gilt die Verbindung aus Gemeinwohlorientierung und Gewinnerzielung als vielversprechendes Organisationsmodell. Dessen rechtlicher Rahmen ist indes noch wenig ausgebildet. Ein Projekt unter der Federführung von Institutsdirektor Holger Fleischer wirft einen interdisziplinären Blick auf diese Materie.

Die Frage, was genau soziales Unternehmertum ausmacht, ist auch eine juristische. In Deutschland gibt es für Sozialunternehmen bislang weder eine Legaldefinition noch eine bestimmte Rechtsform. „Laufend werden neue Initiativen, Konzepte und Organisationsformen von und für Sozialunternehmen entwickelt. Die dahinterstehende Grundidee ist inzwischen auch in der Rechtspolitik auf fruchtbaren Boden gefallen“, sagt der Rechtswissenschaftler und Ökonom Fleischer. So hat ihr die Europäische Kommission im Jahr 2020 einen knapp 200-seitigen Bericht mit dem Titel „Social Enterprises and their Ecosystems in Europe“ gewidmet und im Dezember 2021 einen „Aktionsplan für die Sozialwirtschaft“ vorgelegt. 2023 hat die OECD einen Leitfaden zum Rechtsrahmen für die Sozial- und Solidaritätswirtschaft veröffentlicht. Hierzulande verkündet der aktuelle Koalitionsvertrag, dass zu einer modernen Unternehmenskultur auch neue Formen wie Sozialunternehmen gehörten, und stellt die Erarbeitung einer nationalen Strategie für Sozialunternehmen in Aussicht, um gemeinwohlorientiertes Wirtschaften und soziale Innovationen stärker zu unterstützen.
 

 

„Laufend werden neue Initiativen, Konzepte und Organisationsformen von und für Sozialunternehmen
entwickelt. Die dahinterstehende Grundidee ist inzwischen
auch in der Rechtspolitik auf fruchtbaren Boden gefallen.“

– Institutsdirektor Holger Fleischer –


Soziale Innovation und wirtschaftlicher Wandel

Einer klassischen Einteilung folgend lässt sich eine Volkswirtschaft in drei Sektoren gliedern: den Staat als ersten, die Privatwirtschaft als zweiten und die Sozialwirtschaft als dritten Sektor. Zu Letzterem werden traditionell Stiftungen, gemeinnützige Vereine, gGmbHs und andere gemeinnützige Körperschaften gerechnet, die häufig auch als Non-Profit-Organisationen bezeichnet werden. Dieses Modell könnte sich, so Fleischer, mit dem weiteren Aufstieg von Sozialunternehmen als zu eng erweisen: Diesen werde man mit einer negativen Abgrenzung allein nicht mehr gerecht. Vielmehr folgten sie einer institutionellen Eigenlogik, die Gemeinwohlorientierung und Gewinnerzielung miteinander zu verbinden sucht. National und international sei daher immer häufiger von einem im Entstehen begriffenen „vierten Sektor“ die Rede.

Themenvielfalt für die gesellschaftsrechtliche Forschung

Aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive bieten sich Fleischer und seinem Team hier zahlreiche Forschungsthemen. Sie reichen von der Bereitstellung eines geeigneten Rechtsformenangebots über rechtliche Fragen der Unternehmensfinanzierung bis hin zur Durchsetzung der „Social Mission“ sowie zur Verhinderung von „Social Washing“.

Die rechtswissenschaftliche Durchdringung der Materie erfordert auch eine nähere Betrachtung der begrifflichen Grundlagen. Aufgrund der großen Zahl und Vielfalt der Akteure, Ideen und Organisationsformen, die mit sozialem Unternehmertum verbunden sind, ist die Terminologie in diesem Bereich recht uneinheitlich. „Die mit den Begriffen social entrepreneur, social entrepreneurship und social enterprise in Verbindung gebrachten Inhalte und Bedeutungen sind keineswegs in Stein gemeißelt“, hält Fleischer fest. „Für ein differenziertes Verständnis ist es hilfreich, den Blick historisch und international schweifen zu lassen.“

Anfänge in den USA und Asien

Die historische Spurensuche nach den Anfängen der modernen Social-Entrepreneurship-Bewegung führt in die Vereinigten Staaten und nach Asien, wo im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts charismatische Sozialunternehmer mit zündenden Ideen und enormer Tatkraft in Erscheinung traten.

Die Bedeutung von Sozialunternehmen für wirtschaftlichen Wandel und soziale Innovation erkannt zu haben, ist wesentlich das Verdienst des US-Amerikaners Bill Drayton, von manchen ehrfürchtig „Godfather of Social Entrepreneurship“ genannt. Im Jahr 1980 gründete er mit einigen Gleichgesinnten die Non-Profit-Organisation Ashoka mit Sitz in Arlington, Virginia. Sie hat sich der Aufgabe verschrieben, in aller Welt Menschen mit wegweisenden Ideen ausfindig zu machen und ihnen durch gezielte Förderung zu größerem Erfolg zu verhelfen. Heute ist Ashoka in mehr als 90 Ländern auf allen Kontinenten tätig.

Der bekannteste Ashoka Fellow und zugleich leuchtendes Vorbild für viele Social Entrepreneurs ist Muhammad Yunus, ein an der Vanderbilt University ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler aus Bangladesch. Er gründete 1976 die Grameen Bank mit Sitz in Dhaka, die Mikrokredite ohne Sicherheit an überwiegend von Frauen geführte Kleinstunternehmen vergibt, um ihnen einen Ausweg aus bitterer Armut zu ermöglichen. Als „Banker to the Poor“ – so der Titel seiner Autobiografie – erhielt Yunus 2006 gemeinsam mit der Grameen Bank den Friedensnobelpreis.
 

„Besonderes Augenmerk verdient die Aufgabe, sogenanntes
‚Social Washing‘ zu unterbinden. Dabei geht es darum, sicherzustellen,
dass Unternehmen ihrer eigenen ‚Social Mission‘ gemäß handeln
und irreführende Angaben über die Umsetzung ihrer selbstauferlegten
sozialen Verantwortung sanktioniert werden können.“

– Institutsdirektor Holger Fleischer –

Vorreiter Italien

Bereits in den 1970er-Jahren entstanden und gediehen Sozialunternehmen auf italienischem Boden. Zunächst war dies eine Graswurzelbewegung in Reaktion auf gravierende Schwächen des staatlichen Wohlfahrtssystems. Als lockeres Organisationskleid diente ihnen seit den 1980er-Jahren eine Art Genossenschaft, die erst durch ein Gesetz von 1991 eine festere Gestalt als cooperativa sociale erhielt. 2005 führte der Gesetzgeber den rechtlichen Status impresa sociale ein, um Sozialunternehmen auch andere Rechtsformen außerhalb des Genossenschaftssektors zur Verfügung zu stellen. 2017 wurde der sogenannte dritte Sektor durch ein Gesetzesdekret neu geordnet.

Nachzügler Deutschland

Hierzulande hat Social Entrepreneurship erst gegen Ende der 1990er-Jahre Fuß gefasst. 1998 rief Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, zusammen mit seiner Frau Hilde die „Schwab Foundation for Social Entrepreneurship“ ins Leben, mit dem Ziel, soziale Innovationen zu fördern. Fleischer weist aber auch auf historische Vorbilder hin: „Friedrich Wilhelm Raiffeisen, einer der beiden Gründerväter des deutschen Genossenschaftswesens, war ein Sozialunternehmer avant la lettre mit einem Modell, das dem von Muhammad Yunus nicht unähnlich war.“ Mittlerweile gehen Schätzungen von 2.000 bis 70.000 Sozialunternehmen in Deutschland aus, wobei sich die meisten von ihnen noch in der Umsetzungs- und Wachstumsphase befinden.

Offene Fragen

Weltweit ist für das soziale Unternehmertum noch ein beträchtliches Wachstum zu erwarten. Fragen über rechtliche Grundlagen werden daher weiter an Bedeutung gewinnen. „Die Überlegungen und Diskussionen sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene sind darauf zu richten, was für und was gegen eigene Regelwerke für Sozialunternehmen spricht und wie diese gegebenenfalls ausgestaltet werden sollten“, erklärt Fleischer. „Besonderes Augenmerk verdient dabei die Aufgabe, sogenanntes ‚Social Washing‘ zu unterbinden. Dabei geht es darum, sicherzustellen, dass Unternehmen ihrer eigenen ‚Social Mission‘ gemäß handeln und irreführende Angaben über die Umsetzung ihrer selbstauferlegten sozialen Verantwortung sanktioniert werden können.“


 




Headergrafik: Johanna Detering mit grafischen Elementen © AdobeStock, j-mel

Porträt Holger Fleischer: © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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