Die Frühehe vor dem Grundgesetz
Die Frühehe, ein globales und altes Phänomen der Menschheit, ist seit einigen Jahren verstärkt Gegenstand menschenrechtlicher und rechtspolitischer Diskussionen. So ist 2017 in Deutschland das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen in Kraft getreten, das es Minderjährigen im Inland versagt, eine Ehe zu schließen, und Ehen, die von Minderjährigen im Ausland geschlossen wurden, die Wirksamkeit versagt. Inzwischen steht es verfassungsrechtlich auf dem Prüfstand. Ein Team von Wissenschaftler*innen um Nadjma Yassari und Ralf Michaels hat für das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine rechtsvergleichende Stellungnahme verfasst, die das Phänomen der Frühehe im Kontext unterschiedlicher Rechtsordnungen und -kulturen beleuchtet.
Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen sieht vor, dass im Ausland geschlossene Ehen in Deutschland unwirksam beziehungsweise aufzuheben sind, wenn zumindest ein Ehepartner bei der Eheschließung minderjährig war. Der deutsche Gesetzgeber wollte damit vor allem Mädchen und junge Frauen vor den Folgen einer verfrühten Ehe schützen.
Der Fall, der den Gesetzgeber und jetzt auch das BVerfG beschäftigte, betraf ein geflüchtetes syrisches Paar, das 2015 nach Deutschland gekommen war. Zum Zeitpunkt der Eheschließung in Syrien war der Mann 21 und die Frau 14 Jahre alt [weitere Informationen]. Nachdem Untergerichte die Ehe nach altem Recht für wirksam gehalten hatten, verschärfte der Gesetzgeber dieses Recht so, dass eine Anerkennung ausgeschlossen sein musste. Der Bundesgerichtshof (BGH) wandte dieses neue Recht indes nicht an, sondern legte dem BVerfG die Frage vor, ob die neuen Regelungen des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen verfassungskonform seien. Die Entscheidung des BVerfG dazu steht noch aus.
„Frühehen werden aus den unterschiedlichsten Gründen eingegangen. Oft erhoffen sich die Eheleute soziale und materielle Sicherheit. Für sie kann die Nichtanerkennung ihrer Ehe in Deutschland gravierende Folgen haben“, sagt Nadjma Yassari. Sie leitet eine Forschungsgruppe zum Recht islamischer Länder, die sich seit vielen Jahren vertieft mit der Frühehe beschäftigt. Wird einer im Ausland wirksam geschlossenen Ehe die Wirkung im Inland versagt, verlieren die Betroffene eheliche vermögensrechtliche Ansprüche und werden auch in ihrem sozialen Status verletzt. Im Ergebnis schadet das Gesetz oft gerade jenen, die es im Grunde schützen will, so die Forscherin. Selbst wenn die Absicht des deutschen Gesetzgebers gut sein mag, erscheint das erwählte Mittel wenig zielführend.
IPR braucht kulturellen Kontext
„Der Umgang mit unterschiedlichen Rechtskulturen gehört zu den Herausforderungen des Zusammenlebens in einer von Globalisierung geprägten Welt.“
– Ralf Michaels –
Die Stellungnahme des Instituts geht insbesondere der Frage nach, wann ausländische Ehen, die nicht den Vorgaben des deutschen Rechts entsprechen, dennoch schützenswert sind. Die Autor*innen weisen nach, wie unterschiedliche Wertvorstellungen über Ehe und Familie sowie der Rolle von Minderjährigen und Geschlechtern die Praxis der Frühehe prägen. Verheiratet zu sein ermöglicht in vielen Ländern und Kulturen sexuelle Kontakte. Es schafft Zugang zu einem anerkannten Platz in der Gesellschaft, der weder allein durch das Erreichen eines bestimmten Alters noch den Abschluss einer Ausbildung eingenommen werden kann. Die Nichtanerkennung einer so bereits geschlossenen Ehe nimmt gerade den zu schützenden Minderjährigen diesen Status.
„Der Umgang mit unterschiedlichen Rechtskulturen gehört zu den Herausforderungen des Zusammenlebens in einer von Globalisierung geprägten Welt“, sagt Institutsdirektor Ralf Michaels. „Deutschland kann nicht Weltgesetzgeber sein. Wenn wir nach ausländischem Recht geschlossene und im guten Glauben an ihre Gültigkeit gelebte Ehen ohne Einzelfallprüfung für unwirksam erklären, setzen wir den von einem anderen Rechtssystem garantierten Status pauschal außer Kraft. Das ist aber gerade nicht die Aufgabe des internationalen Privatrechts.“
Globale Bestandsaufnahme mit differenziertem Blick
„In allen Rechtsordnungen will das Recht die Menschen schützen. Dieses Credo wird auf vielfältige Weise interpretiert und umgesetzt. Diese Vielfältigkeit muss bei der Beurteilung der Schutzwürdigkeit der Frühehe berücksichtigt werden.“
– Nadjma Yassari –
Das Institut schöpft in seiner Stellungnahme aus seiner rechtsvergleichenden und internationalprivatrechtlichen Kernkompetenz. Um die für die verfassungsrechtliche Anerkennungsfrage notwendigen Erkenntnisse zu liefern, hat ein Ad-hoc-Team aus 30 Wissenschaftler*innen die juristische und praktische Behandlung der Frühehe in rund 60 Rechtsordnungen weltweit untersucht. Die Bestandsaufnahme umfasst neben vielen islamisch geprägten Rechtsordnungen europäische Länder innerhalb und außerhalb der EU, die USA, Japan sowie verschiedene Staaten Lateinamerikas.
Die Eingehung einer Ehe setzt die Ehemündigkeit voraus. Ihre gesetzliche Regelung bringt die Wertungen der Gesetzgeber zum Ausdruck, zu welchem Zeitpunkt Personen die notwendige körperliche und geistige Reife besitzen, die Folgen einer Heirat abzusehen und diese tragen zu können. Dieser Zeitpunkt ist in einigen Rechtsordnungen pauschalisiert und an fixe Altersgrenzen geknüpft. In anderen Ländern erfolgt ihre Festlegung anhand variabler Kriterien, wie die Körper- oder Geistesreife oder das Kindeswohl. Oftmals haben Gerichte einen Ermessensspielraum, die Ehemündigkeit im Einzelfall festzulegen. „In allen Rechtsordnungen will das Recht die Menschen schützen. Dieses Credo wird auf vielfältige Weise interpretiert und umgesetzt. Diese Vielfältigkeit muss bei der Beurteilung der Schutzwürdigkeit der Frühehe berücksichtigt werden“, fasst Nadjma Yassari eines der zentralen Ergebnisse der Studie zusammen.
Kritisches Fazit
Der internationale Vergleich zeigt, dass die deutsche Regelung sehr streng ist und im Einzelfall zu ungewöhnlichen Härten führt. „Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen erlaubt weder Spielraum für die Würdigung individueller Sachverhalte noch ermöglicht sie Eheleuten, ihre Position im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens geltend zu machen“, sagt Ralf Michaels.
Mit dem Verbot der Frühehe ließen sich zwar Eheschließungen von Minderjährigen in Deutschland verhindern, es gebe jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Nichtanerkennung solcher Ehen durch den deutschen Staat dazu führt, dass sie im Ausland seltener geschlossen werden. Eine abschreckende Wirkung sei also nicht zu erwarten.
Die Autor*innen der Stellungnahme weisen auf den Vertrauensschutz hin, den wirksam geschlossene Statusverhältnisse genießen und der im internationalen Privatrecht als Schutz wohlerworbener Rechte behandelt wird. Außerdem zeichnen sie nach, wie die Unwirksamkeit von im Ausland wirksam geschlossenen Ehen einen Eingriff in den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie darstellen kann. Denn dieser steht laut Grundgesetz allen Menschen, unabhängig von Herkunft und Alter, zu.
Literaturhinweise
Folgende Beiträge des Sammelbandes sind in der Reihe „Max Planck Private Law Research Paper Series“ Open Access auf SSRN verfügbar:
Völker- und europarechtliche Vorgaben
Antonia Sommerfeld: Völkerrechtliche Anforderungen an die Frühehe
https://ssrn.com/abstract=3744132
Raphael de Barros Fritz: Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB aus der Perspektive des Europarechts
https://ssrn.com/abstract=3744108
Vorgaben des deutschen Verfassungsrechts
Dieter Martiny: Die ausländische Frühehe und der Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG
https://ssrn.com/abstract=3744106
Christoph Schoppe: Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB und die kindesspezifischen Gewährleistungen der Verfassung: Frühehe, Kindeswohl und Persönlichkeitsentwicklung
https://ssrn.com/abstract=3744113
Christine Toman und Jakob Olbing: Die ausländische Frühehe vor dem allgemeinen Gleichheitssatz
https://ssrn.com/abstract=3744110
Samuel Zeh: Die ausländische Frühehe und das Rückwirkungsverbot
https://ssrn.com/abstract=3744119
Bildnachweise:
Headerbild: © shutterstock/Robsonphoto
Portrait: © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering