Wege des Rechts in dynamischem Umfeld

Wege des Rechts in dynamischem Umfeld

Die Erschließung des chinesischen Zivilgesetzbuches in vergleichender Analyse

Private Law Gazette 2/2022 – Chinas wirtschaftliche und politische Stellung erfordert wissenschaftliche Antworten, die sprachliche und kulturelle Grenzen überwinden. Während aktuell viel vom wachsenden Bedarf an China-Kompetenz die Rede ist, blickt das Institut auf eine lange Tradition der Erforschung des chinesischen Zivilrechts zurück. Bereits am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Berlin gab es ein eigenes China-Referat. Seit 2002 wird es am MPI vom Rechtwissenschaftler und Sinologen Knut Benjamin Pißler geleitet, der es zum Kompetenzzentrum China und Korea ausgebaut hat. Mit ihm werfen wir einen Blick auf die Werkbank seiner Forschung.

Gegenstand von Pißlers wissenschaftlicher Arbeit sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für die privaten und geschäftlichen Beziehungen von Menschen und Unternehmen in einer der dynamischsten Umgebungen der Welt. Aktuell hat er es sich mit einem auf mehrere Jahre angelegten Projekt zur Aufgabe gemacht, das im Mai 2020 erlassene und 2021 in Kraft getretene chinesische Zivilgesetzbuch (ZGB) wissenschaftlich zu erschließen.

Bilinguale juristische Grundlagenarbeit

Zum Auftakt des Projekts erstellte er mit einem vierköpfigen Team aus aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter*innen des Instituts eine deutschsprachige Übersetzung des gesamten Gesetzestextes, die Ende 2020 in der Zeitschrift für chinesisches Recht (ZChinR) veröffentlicht wurde. Darin eingearbeitet sind Paragrafenüberschriften mit erläuternden Fußnoten, die auf die bisherige Rechtslage sowie auf inhaltliche und terminologische Veränderungen gegenüber den Vorgängervorschriften verweisen.

„Diese bilinguale juristische Grundlagenarbeit war nur auf Basis des im Institut jahrzehntelang aufgebauten Wissens über die chinesische Rechtskultur zu bewerkstelligen“, sagt Pißler. Die annotierte Übersetzung war bereits Grundlage zahlreicher Konferenzen und Tagungen, die sich mit dem chinesischen Zivilrecht beschäftigen.


„Interessant ist zu beobachten, wie europäische Konzepte teilweise übernommen und teilweise den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Zunehmend geht man in China dabei auch völlig neue Wege.“

– Knut Benjamin Pißler –


Vermittlung chinesischen Rechtsdenkens

Derzeit bereitet Pißler als Herausgeber gemeinsam mit einem Team von Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis ein breit angelegtes Handbuch vor, das das chinesische ZGB für die deutschsprachige Fachleserschaft zugänglich machen soll. Erörtert werden darin auch zentrale Fragen über das chinesische Rechtsdenken, etwa: Wie werden Rechte und Pflichten in China ausgeübt und durchgesetzt?

„Während man in Deutschland materielles Zivilrecht als ein System von Ansprüchen der Parteien versteht, zeigt China einen Weg auf, der auch aus dem internationalen Einheitsrecht bekannt ist“, erklärt Pißler. „Dabei wird nicht so deutlich zwischen materiellem und prozessualem Recht unterschieden. Zum Tragen kommt hier eine Systematik aus Rechtsbehelfen, deren Grundlage eine Nichterfüllung von Pflichten oder eine Verletzung von Rechten ist.“ Welche Folgen für das Verständnis des chinesischen Rechts dieser Ansatz hat, wird im Handbuch dargestellt.

Facettenreiches Kommentarwesen

Wie aber blickt man in China knapp zwei Jahre nach seinem Inkrafttreten auf das neue ZGB? Welche Probleme stellen sich in der Rechtsanwendung? „Wie in Deutschland gehören auch in China Gesetzeskommentare zum unverzichtbaren juristischen Handwerkszeug. Es handelt sich dabei um eine alte Tradition, die im Zuge von Öffnung und Reform in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wiederbelebt wurde“, sagt Pißler. Er hat es unternommen, das chinesische Kommentarwesen zum neuen ZGB zu sichten und einer ersten Analyse zu unterziehen.

Die Bestandsaufnahme zeigt: In Vielfalt und Dimension kann sich die chinesische Kommentarlandschaft inzwischen – trotz weiterhin bestehender Unterschiede etwa im Hinblick auf den wissenschaftlichen Anspruch – mit der Deutschlands messen. Allein die chinesischen Publikationen aus der Sammlung der Institutsbibliothek füllen mehrere Regalmeter. Sie lassen sich in drei große Kategorien unterteilen: solche von Autor*innen, die am Gesetzgebungsprozess beteiligt waren, eine vom Obersten Volksgericht herausgegebene Serie, die sich in erster Linie an Richter*innen wendet, sowie eine größere Zahl wissenschaftlicher Kommentare.

Rechtsvergleichung als Kompass juristischer Chinaforschung

Der Wandel von einem sozialistischen zu einem marktorientierten Wirtschaftssystem, der zunehmende Wohlstand von Millionen von Menschen vor dem Hintergrund technologischen Fortschritts sowie das Spannungsfeld zwischen internationaler Öffnung und Abgrenzung stellen das China von heute vor große Herausforderungen. Für Chinas Partner in der Welt ist die Rechtsentwicklung der zweitgrößten Wirtschaftsmacht hoch relevant.

Jurist*innen mit westlichem Hintergrund, die sich mit chinesischem Recht beschäftigen, müssen also neben den Parallelen zum eigenen Rechtssystem die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Besonderheiten Chinas verstehen und einordnen. Dient ein übernommenes Rechtsinstitut wie etwa der Nichtigkeit von Verträgen wegen Sittenwidrigkeit demselben Rechtssetzungszweck? Entfaltet es in der Praxis dieselbe Wirkung? Wie werden rezipierte Rechtsfiguren gegenüber ihren rechtsvergleichenden Vorbildern modifiziert? Welche Erwägungen geben dabei den Ausschlag? Wie sich das chinesische Privatrecht im Kontext rasanten Wandels weiterentwickelt, bleibt ein spannendes Forschungsfeld.

„Die Rezeption kontinentaleuropäischen Zivilrechts ist in der Volksrepublik bis heute prägend. Das deutsche BGB gilt immer noch als wichtiges, aber bei Weitem nicht einziges Vorbild“, stellt Pißler fest. „Interessant ist auch zu beobachten, wie europäische Konzepte teilweise übernommen und teilweise den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Zunehmend geht man in China dabei auch völlig neue Wege.“




© Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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