Grenzgänge im Familienrecht

Anne Röthel ist Kipppunkten in Recht und Gesellschaft auf der Spur

5. Juli 2024

Zum Studium der Rechtswissenschaften kam sie über Umwege. Sprachen, Literatur, Philosophie und Theater interessierten sie zunächst mehr. Schreibend und lehrend sah sie sich schon früh. Ihre Entscheidung für das Jurastudium war ursprünglich eine gegen das Risiko potenziell brotloser Alternativen. Erhalten hat sie sich ihre Offenheit für andere Disziplinen. Ihr Weg in die Wissenschaft hat sich schrittweise ergeben und führte sie unter anderem nach Brüssel, Oxford und Paris. Von ihrem Lehrstuhl an der Bucerius Law School folgte sie dem Ruf ans Institut, dessen Direktorium sie seit dem 1. Januar 2024 angehört.

Ihre wissenschaftliche Arbeit widmet sie den Gegenwarts- und Zukunftsfragen des Rechts der Person, der Familie und des privaten Lebens. Mit ihrer interdisziplinär und international ausgerichteten Forschungsagenda will sie das Recht nach vorne denken. „Das Recht“, sagt sie, „ist nicht etwas, das uns einfach geschieht.“ An diese Feststellung knüpft sie die Aufgabe, die an den rechtlichen Entwicklungen beteiligten Konstellationen und Kräfte in ihrem beweglichen Zusammenspiel aufzuklären. „Wir müssen versuchen, die Dogmen, Diskurse und Deutungen aufzuarbeiten, die Institutionen und Imaginationen zu beschreiben, die Erzählungen und Traditionen einzufangen, die Wertungen und Wirkungen zu analysieren, um schließlich tastend möglichen Kreisläufen und Kipppunkten auf die Spur zu kommen.“

Ihr geht es um das, was die menschliche Lebensform ausmacht: Kindsein und Altern, Körperlichkeit und Krankheit, Intimität und Beziehungen, Elternsein und Verwandtschaft, Herkunft und Identität. „Mich interessiert zum Beispiel, welchen Anteil das Recht an Selbstwahrnehmungen hat und daran, was jeweils als normal oder natürlich erscheint. Wodurch geraten solche Vorstellungen in Bewegung? Welche Rollen spielen Gerichte dabei, welche die Rechtswissenschaft? Erleben andere Gesellschaften mit ähnlicher Orientierung auf Selbstbestimmung und Freiheit ähnliche Rechtsentwicklungen?“
 


Wir müssen versuchen, die Dogmen, Diskurse und Deutungen aufzuarbeiten, die Institutionen und Imaginationen zu beschreiben, die Erzählungen und Traditionen einzufangen, die Wertungen und Wirkungen zu analysieren, um schließlich tastend möglichen Kreisläufen und Kipppunkten auf die Spur zu kommen.“

– Institutsdirektorin Anne Röthels –


Sie warnt davor, das Wirken nicht rechtlicher Kräfte zu übersehen, und betont die Bedeutung einer multidisziplinären Herangehensweise: „Um Einsichten über die im Familienrecht wirksamen Entwicklungskräfte zu gewinnen, ist die Auseinandersetzung mit der historischen Familienforschung und der Familiensoziologie unverzichtbar. Sonst besteht die Gefahr, Vorurteilen, Stereotypen und Klischees aufzusitzen.“

In den aktuellen familienrechtlichen Entwicklungen erkennt Röthel eine sich international abzeichnende Bewegung, die auf die rechtliche Anerkennung anderer Formen familiären Lebens drängt: Vielerorts gibt es bereits die Ehe für Paare gleichen Geschlechts. Neue Rechtsinstitute neben der Ehe sind geschaffen worden oder entstehen gerade. Wir erleben, wie Rechtsordnungen zusätzliche Elternrechte jenseits biologisch gedachter Abstammung begründen. Und in Deutschland steht die Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft zur Debatte. Zugleich weist sie darauf hin, dass dies keine universelle Bewegung ist: „Anerkennungen und Aberkennungen finden gleichzeitig statt. Andere Rechtsordnungen gehen in Gegenrichtungen. Homosexuelle Lebensweisen werden rekriminalisiert, und womöglich werden Öffnungen der Ehe wieder zurückgenommen.“

Gerade im Familienrecht, das vielen als kompliziert und unübersichtlich gilt, sieht sie daher ein faszinierendes Forschungsfeld. In ihrer Antrittsvorlesung hat sie ausgeführt, wie Emanzipation, Alterung und Migration viele Familienrechte der Gegenwart herausfordern und vor noch unbearbeitete Fragen stellen. Die Klage über den unablässigen Wandel in diesem Bereich deutet sie als Klage darüber, die Gegenwart nicht lesen zu können. „Und damit ist die Rechtswissenschaft gefragt, mit dem Auftrag, den Max Weber uns ins Lastenheft einschrieb: die Rechtsentwicklung als soziales Handeln deutend zu verstehen und ihre wechselnde Gestalt in ihrem Ablauf und ihren Wirkungen zu erklären.“

Im Bereich des Rechts der Person, das Menschen nach Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft, Alter oder Neurotypik zuordnet und daran Rechtsfolgen knüpft, beobachtet die Wissenschaftlerin einen Prozess der Dekategorisierung: „Kategorisierendes Recht wird als Adultismus, Ableismus und wegen seiner impliziten Hierarchisierungen kritisiert. Dies drängt auf völlig neue Regelungsstrukturen. Und vielleicht ist die intuitive Zurückweisung dieser Ansätze bei vielen gerade deshalb so stark, weil man sich derzeit nicht vorstellen kann, wie das gehen soll.“ Wäre ein Personenrecht ohne solche Kategorien realisierbar? Wie sähe ein geschlechtsneutral formuliertes Familienrecht aus? Hier gelte es, Grundlagen zu schaffen, mit denen untersucht werden kann, welche Kategorien legitim und – etwa zum Schutz nicht selbstbestimmungsfähiger Menschen – notwendig und welche gegebenenfalls verzichtbar sein könnten.

Zum Aspekt des privaten Lebens im Familienrecht stellt sie fest, dass etwa in Deutschland die Grenzen zwischen innen und außen, Familie und Gesellschaft, privat und öffentlich immer durchlässiger werden: „Ein großer Teil der rechtlichen Konzepte, die die Familie als abgeschirmten Raum konstruiert und dadurch innerfamiliäre Machtverhältnisse konsolidiert und legitimiert haben, hat an Überzeugungskraft verloren. Gleichzeitig wird Privatheit verstärkt als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben gesehen.“ Diesen Verschiebungen will sie nachgehen. Ihr Werdegang folgt, sagt Röthel, keinem Masterplan, sondern ist ein Weg, der im Gehen entstanden ist. Mit ihrem Wechsel ans Institut ist sie zu einer neuen Etappe aufgebrochen. Möglichen Kipppunkten, auf die sie dabei stoßen mag, sieht sie mit Neugier entgegen.


 




Bildnachweis: © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Patrice Lange

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