Urquellen des Gesellschaftsrechts
Entdeckungsreise zu den großen Gesellschaftsverträgen aus Geschichte und Gegenwart
Im Gesellschaftsrecht trat der Gesetzgeber erst spät auf den Plan. Jahrhundertelang stellten Gründungsurkunden und Vertragswerke sicher, dass alle für den Bestand einer Gesellschaft wesentlichen Regeln verbindlich festgelegt wurden. Von der Rechnungslegung über das Wettbewerbsverbot bis hin zur Strukturierung von Leitungs- und Aufsichtsorganen entstanden so Modelle für spätere gesetzliche Normen.
„Viele Innovationen im Unternehmensrecht haben ihren Ursprung in Satzungen und Verträgen. Trotzdem wurde der Gesellschaftsvertrag bisher kaum als eigener Forschungsgegenstand behandelt“, sagt Institutsdirektor Holger Fleischer. Er hat dazu gemeinsam mit Sebastian Mock, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, ein Forschungsprogramm ins Leben gerufen, dessen Ergebnisse jetzt vorliegen. Der Band „Große Gesellschaftsverträge aus Geschichte und Gegenwart“ dokumentiert und erläutert 27 berühmte Satzungen und Verträge, die dafür zum Teil erstmals aus Unternehmensarchiven für die Fachöffentlichkeit erschlossen wurden. Zu den Autor*innen der Fallstudien gehören auch Yannick Chatard, Matthias Pendl und Julia Tittel, die am Institut in der Arbeitsgruppe von Holger Fleischer forschen. Außerdem mitgewirkt haben die ehemaligen Institutsmitarbeiter Konstantin Horn, Klaus Ulrich Schmolke und Eckart Bueren.
Vorläufer gesetzlicher Normierung
„Viele Innovationen im Unternehmensrecht haben ihren Ursprung in Satzungen und Verträgen. Trotzdem wurde der Gesellschaftsvertrag bisher kaum als eigener Forschungsgegenstand behandelt.“
– Holger Fleischer –
Nach der im 19. und 20. Jahrhundert erfolgten Durchnormierung des gesamten Gesellschaftsrechts erhält der Gesellschaftsrechtsvertrag heute keine große Aufmerksamkeit. Lehrbücher und Kommentare stellen das Gesetzesrecht in den Mittelpunkt. Doch lange bevor es erste gesellschaftsrechtliche Einzelgesetze oder Kodifikationen gab, schlossen sich Personen vertraglich zur gemeinsamen Zweckverfolgung zusammen und vereinbarten entsprechende Beitragsleistungen. „Gesellschaftsverträge bilden die Grundbausteine der verbandsrechtlichen Ordnung“, fasst Holger Fleischer zusammen.
Evolution und Vielfalt
So verschieden wie die im Rahmen des Forschungsprojekts untersuchten Unternehmen und Organisationen sind deren Rechtsformen. Das Sammelwerk spannt einen historischen Bogen von der altrömischen societas über die Personengesellschaften der Florentiner Medici und der Augsburger Fugger bis hin zur niederländisch-ostindischen Compagnie als Vorläuferin der Aktiengesellschaft. Ein Stück deutscher Wirtschaftsgeschichte erzählen die Statuten der IG Farben sowie die erstmals öffentlich zugänglich gemachte Satzung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.
Als besonders fruchtbares Gelände für unternehmerische Zweckzusammenschlüsse erweist sich Hamburg. Allein vier Beiträge beschäftigen sich mit prominenten Unternehmen und Institutionen der Hansestadt: So werden die Statutengeschichte des von Max Herz gegründeten Familienunternehmens Tchibo, der Werdegang der Hamburger Hochbahn von einer privaten zu einer staatlichen Aktiengesellschaft, die als gemeinnützige Kapitalgesellschaft organisierte Bucerius Law School sowie die Satzung der HSV Fußball AG analysiert.
Internationales Anschauungsmaterial bieten etwa die als FIFA bekannte 1904 als transnationaler Verein gegründete Féderation Internationale de Football Association, der Zusammenschluss von Daimler-Benz und Chrysler in der DaimlerChrysler AG von 1998 oder die Satzung des weltweiten Internetgiganten Alphabet/Google von 2015.
Verborgene Schlüsseltexte
Große Gesellschaftsverträge und Satzungen gehören also zu den Schlüsseltexten des Gesellschaftsrechts. Wer mehr über sie erfahren möchte, muss ihrer jedoch erst einmal habhaft werden. „Zum Teil ist dies außerordentlich mühsam. Manches Dokument ist urkundlich erhalten, wie beispielsweise ein 1455 zwischen Mitgliedern der Medici-Familie und einem familienfremden Gesellschafter geschlossener Vertrag über den Betrieb von Wechsel- und Handelsgeschäften in Brügge“, berichtet Holger Fleischer. „Besonders gut ausgestattet ist das Familien- und Stiftungsarchiv der Fugger, das bis in das Jahr 1554 zurückreicht. Moderne Statuten lassen sich mitunter in Sammlungen finden, die es nach dem Vorbild des 1905 gegründeten Krupp-Archivs heute bei vielen großen Unternehmen gibt.“
Wertvoller Stoff für die Grundlagenforschung
Mit der Erschließung historischer sowie zeitgenössischer Quellen- und Wissensbestände hat sich eine wahre Fundgrube für die gesellschaftsrechtliche Grundlagenforschung aufgetan. Besonderen Erkenntniswert liefert die Analyse jener Statuten, die durch ihren Pioniercharakter maßgeblich zur Entwicklung des modernen Gesellschaftsrechts beigetragen haben. So lässt sich etwa im Bankhaus der Medici und seinen in London, Brügge, Genf, Avignon und Lyon errichteten Tochtergesellschaften der erste europäische Personengesellschaftskonzern erkennen.
„Für die juristische Forschung hochinteressant sind Statuten von Familienunternehmen, denen über die Epochen hinweg eine zentrale Rolle in der Gesellschaftsrechtsentwicklung zukommt“, stellt Holger Fleischer fest: „Generationenübergreifende Fallstudien der Fugger-Dynastie, der Siemens-Familie oder des Kölner Bankhauses Sal. Oppenheim geben einen tiefen Einblick in komplexe Interaktionen und innerfamiliäre Kräfteverhältnisse.“
Eine herausragende Rechtsinnovation bildet das Standard Oil Trust Agreement von 1882, das auch als „Mother of Trusts“ bezeichnet wird. Seine neuartige Treuhandkonstruktion lieferte die Blaupause für weitere Trusts, die jahrzehntelang das industrielle Bild Amerikas prägten.
Interdisziplinärer Brückenschlag
Die Neubefassung der Rechtswissenschaft mit Gesellschaftsverträgen eröffnet bisher kaum erkundete Kooperationsmöglichkeiten mit den Geistes- und Wirtschaftswissenschaften. Besonders im Blick haben die Herausgeber und Autor*innen dabei neben der allgemeinen Geschichte die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Das vorliegende Werk könnte somit ein Sprungbrett für eine Vielzahl interdisziplinärer Forschungsprojekte werden.
Bildnachweise: © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering