Testierfreiheit versus familiäre Solidarität – Woher kommt das Pflichtteilsrecht?

Testierfreiheit versus familiäre Solidarität – Woher kommt das Pflichtteilsrecht?

Alle europäischen sowie die vom europäischen Recht geprägten außereuropäischen Rechtsordnungen kennen zwei Arten der Vermögensnachfolge von Todes wegen. Erblasser*innen können per Testament oder Erbvertrag selbst bestimmen, wer sie in welchem Umfang beerbt. Sofern es keinen erklärten letzten Willen gibt, greift die gesetzliche Erbfolge ein. Die Verfügungsmacht über den eigenen Nachlass ist jedoch beschränkt. Was heute als ‚Pflichtteil‘ bezeichnet wird, gründet auf einer langen Tradition. Institutsdirektor Reinhard Zimmermann hat ihren Weg vom römischen Recht bis zu den modernen Zivilgesetzbüchern untersucht.

„Die Frage, ob man sein Eigentum frei vererben darf, oder ob dieser Freiheit Ansprüche der nächsten Angehörigen entgegenstehen, beschäftigt europäische Rechtsgelehrte seit der Antike“, sagt Zimmermann. Gemeinsam mit seinen Kollegen Kenneth Reid von der Edinburgh Law School und Marius de Waal von der Stellenbosch University hat er vor über zehn Jahren eine internationale Arbeitsgruppe zur Erforschung des Erbrechts in historischer und vergleichender Perspektive ins Leben gerufen. Ihr gehören 20 Rechtswissenschaftler*innen aus vielen Teilen der Welt an. Aus dieser Zusammenarbeit ist eine Reihe global angelegter rechtsvergleichender Werke zum Erbrecht entstanden. Die ersten beiden Publikationen waren den Testamentsformen und der gesetzlichen Erbfolge gewidmet. Das Thema Pflichtteilsrecht behandelt ein im Herbst 2020 erscheinender dritter Band. Eine von Zimmermann in deutscher Sprache verfasste historisch-vergleichende Untersuchung von Pflichtteil und Noterbenrecht in Europa ist in der neuen Ausgabe von Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht erschienen.

„Für die kontinentaleuropäische Rechtstradition prägend war die Art und Weise, wie die römischen Juristen sich der Aufgabe stellten, eine Balance zwischen Testierfreiheit und familiärer Solidarität zu erzielen“, so Zimmermann. „Dafür entwickelten sie im Lauf der Zeit verschiedene bemerkenswerte Konzepte.“ Beispielsweise wurden Abkömmlinge durch Formvorschriften davor geschützt, vom Erblasser übergangen zu werden. Sie mussten im Testament ausdrücklich enterbt werden. Erblasser hatten also bestimmter Angehöriger explizit zu gedenken, wenn sie diese nicht bedenken wollten. Später wurden Vorfahren dazu verpflichtet, Nachkommen auf einen Anteil des Nachlasses als Erben einzusetzen. Geschah dies nicht, ohne dass dies durch einen triftigen Grund gerechtfertigt gewesen wäre, traten die übergangenen Personen an die Stelle der ursprünglich vorgesehenen Erben. Besonderer Schutz wurde der Witwe zuteil, sofern ihre Versorgung nicht anderweitig sichergestellt war. Neben bis zu drei Kindern erhielt sie ein Viertel des Nachlasses, die sogenannte ‚Quart der armen Witwe‘.

Manche der von den römischen Juristen entwickelten Regelungskonzepte waren sehr komplex. Die vom oströmischen Kaiser Justinian im sechsten Jahrhundert veranlasste Neukodifikation dieses Bereiches des römischen Rechts sollte die bestehenden Normen vereinheitlichen und vereinfachen, verfehlte jedoch ihr Ziel. Über Jahrhunderte hinweg wurde sowohl über Grundsätzliches als auch über Details gestritten, und die einschlägigen Kommentierungen nahmen enorme Ausmaße an. Schließlich wurde es zur Aufgabe der Verfasser der modernen europäischen Zivilgesetzbücher, kohärente Normen zu entwickeln.

So erhalten die nächsten Angehörigen heute in Deutschland mit dem sogenannten Pflichtteil einen Anspruch auf den Wert einer festen Quote des Nachlasses. Diese Lösung war bereits im dem BGB historisch vorausgegangenen österreichischen Zivilgesetzbuch ABGB enthalten. Im französischen Code civil ist den nächsten Verwandten ein bestimmter Anteil der Erbschaft reserviert. Sie werden also ‚Noterben‘, das heißt: notwendige Erben. In England sind sie demgegenüber weder Noterben, noch haben sie einen Anspruch auf den Pflichtteil. Vielmehr kann ihnen das Gericht eine family provision zuweisen, deren Höhe weitgehend im richterlichen Ermessen liegt. Der Schutz der nächsten Angehörigen ist bei dieser Regelung also grundsätzlich bedarfsabhängig.

Sowohl das in Deutschland und Österreich geltende als auch das französische Modell, das im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl weiterer Rechtsordnungen in Europa und außerhalb Europas beeinflusst hat, gehen auf das römische Recht zurück. Das englische Recht hat sich aus anderer Wurzel entwickelt, wenngleich auch die bedarfsorientierte Lösung Vorbilder in den römischen Quellen hat. Zu den unverlierbaren Errungenschaften der römischen Jurisprudenz zählt jedenfalls die Entwicklung zweier miteinander konkurrierender Prinzipien: der Testierfreiheit und der Solidarität innerhalb der Familie, die auch über den Tod hinauswirkt. Mit der Übernahme beider Prinzipien von den Römern ist auf unsere modernen Rechtsordnungen auch die Aufgabe übergegangen, eine vernünftige Balance für die daraus entspringenden Interessenskonflikte herzustellen.



Weiterführende Literatur

Reinhard Zimmermann, Pflichtteil und Noterbenrecht in historisch-vergleichender Perspektive, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 84 (2020), 465–547.


Bildnachweise:

Headerbild: © shutterstock/Burdun Iliya 
Portrait:  © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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