Rechtsprechung als Wissensspeicher

Projektzeitraum: 2024-2025

Zumeist interessiert Rechtsprechung in ihrer Funktion als Entscheiderin. Auch für die Rechtswissenschaft ist Rechtsprechung in erster Linie der Ort, an dem Rechtsfragen geklärt und entschieden werden, indem Rechtsnormen angewendet, konkretisiert, gebildet und begründet werden. Hier soll eine andere Funktion von Rechtsprechung analysiert werden, die bisher nicht systematisch in den Blick genommen worden ist: dass Rechtsprechung durch ihre Entscheidungen auch bestimmte Formen von Wissen speichert. Diese Perspektive ist von der narratologischen Rechtsforschung inspiriert, die sich dafür interessiert, wie und wozu Rechtstexte erzählen. Denn Entscheidungen dokumentieren nicht nur Ergebnisse, sondern sie schildern Sachverhalte, registrieren Anschauungen und breiten Argumentationen aus. Und nicht selten sind sie wie Schlüssellöcher: Sie geben Einblicke in Intimes und Privates, informieren über innerste Motive, benennen zurückgehaltene Anschauungen, erlauben Rückschlüsse auf Praktiken, bringen Konflikte zur Sprache und konservieren Kontexte. Rechtsprechung ist nicht nur Erkenntnisquelle dafür, was Recht ist, sondern auch Erkenntnisquelle für Sachverhalte, Argumentationen und Anschauungen. Auf diese Weise entstehen Dokumente von epistemischem Wert. Diese Nebenfunktionen von Rechtsprechung und ihr Nutzen werden am Beispiel von Urteilen zu Erbpraktiken und zu Erziehungspraktiken gesichtet und systematisiert.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht