Nachhaltigkeit und individuelle Freiheit
Welche Rolle spielen Privatrecht und IPR?
Die Ermöglichung von individueller Freiheit und wirtschaftlichem Wachstum gehört zu den zentralen Grundsätzen des modernen Privatrechts wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Ein von der unbeschränkten Ausbeutung von Ressourcen abhängiges quantitatives Wachstum erscheint vor dem Hintergrund der Klimakrise und des Verlusts an Biodiversität heute jedoch nicht mehr vertretbar. „Für das Privatrecht ist ein Umdenken notwendig“, sagt Institutsdirektor Ralf Michaels. „Wir müssen unseren Fokus von der Freiheit hin zur Verantwortung und vom Wachstum auf Stabilität verlagern.“
Nachhaltigkeit ist längst zu einem normativen Schlüsselbegriff geworden. Klar ist auch, dass die mit ihm verbundenen Werte und Ziele nur durch eine über nationale Grenzen hinausgehende Zusammenarbeit Realität werden können. Welche Bedeutung haben das Privatrecht und insbesondere das internationale Privatrecht (IPR) für die Realisierung der 1992 von den Vereinten Nationen als globales Leitbild verankerten nachhaltigen Entwicklung? „Über viele Jahre wurde hier in der Wissenschaft kaum ein Zusammenhang gesehen“, sagt Michaels. Er ist Mitherausgeber des 2021 erschienenen Bandes „The Private Side of Transforming our World“, der Beiträge von Autor*innen aus aller Welt versammelt. Sie untersuchen darin für jedes der 17 von den Vereinten Nationen im Rahmen der Agenda 2030 festgelegten Nachhaltigkeitsziele, welche Rolle das IPR bei deren Umsetzung spielt. Das Buch stieß international auf großes Interesse, weil es eine Lücke füllte. Für Michaels zeigte sich damit das Potenzial für ein langfristig angelegtes Forschungsprojekt.
Die Rolle des Privatrechts
Unser Lebensstil, der auf Ressourcenentnahme aus der Natur, globalem Handel, kreativer Zerstörung und Abfallproduktion basiert, ist alles andere als nachhaltig. Und er fußt zu einem großen Teil auf privatrechtlichen Beziehungen. Allein die Lebensmittel, die wir täglich konsumieren, sind mit Gebrauchs- und Eigentumsrechten zahlreicher Akteure verbunden – von der Herstellung über vielfältige Lieferketten bis hin zum Kauf an der Supermarktkasse. Die UN-Handels- und Entwicklungsorganisation (UNCTAD) schätzt das Welthandelsvolumen im Jahr 2022 auf einen Rekordwert von 23 Billionen US-Dollar. Alle darin enthaltenen Rechtgeschäfte sind privatrechtlichen Ursprungs.
Globale Partizipation
Bereits im Vorfeld zu „The Private Side of Transforming our World“ hat Michaels gemeinsam mit seinen Mitherausgeber*innen Verónica Ruiz Abou-Nigm und Hans van Loon die Grundlagen für eine global angelegte wissenschaftliche Zusammenarbeit geschaffen. Ihr 2018 ausgeschriebener Call for Papers fand weltweit Resonanz. Daraus entwickelte sich das Buchprojekt, dessen Beiträge 2021 in einer hybrid von Hamburg aus abgehaltenen Konferenz einem rund um den Erdball verstreuten Publikum vorgestellt wurden.
„Wir müssen unseren Fokus
von der Freiheit hin zur Verantwortung und
vom Wachstum auf Stabilität verlagern.“
– Institutsdirektor Ralf Michaels –
Konkret beleuchten die Autor*innen darin ein breites Spektrum privatrechtlicher Themen im Kontext grenzüberschreitender Rechtsfragen, vom Recht auf Zugang zur Justiz über die Vertragsfreiheit bis hin zur Anerkennung und Vollstreckbarkeit von Urteilen im Zusammenhang mit der sozialen und ökologischen Verantwortung multinationaler Unternehmen. Mehrfach greifen sie auch Fragestellungen auf, die sich aus dem wachsenden Angebot digitaler Plattformen ergeben, wie etwa solche zu international verfügbaren E-Health-Dienstleistungen oder zur Verwertung von Wohnraum für den Massentourismus. Die durch die Konferenz und die Publikation geknüpften Verbindungen bilden inzwischen ein weltumspannendes Netzwerk aus Forschenden, das verschiedene Folgeprojekte hervorgebracht hat. Sie stellen unter Beweis, welche politische Relevanz und welches Regelungspotenzial im IPR stecken, das lange Zeit als eine rein technische und formale Disziplin angesehen wurde.
Regionen im Fokus
„Die Frage nach der Bedeutung des IPR für eine nachhaltige Entwicklung hat mehrere Dimensionen“, sagt Michaels. „Nach unserer ersten globalen Bestandsaufnahme geht es jetzt unter anderem darum, die sehr unterschiedlichen regionalen Bedingungen in den Blick zu nehmen, unter denen sich Fragen der Nachhaltigkeit ergeben. Das gilt vor allem für die Länder des Globalen Südens.“ Gelegenheit, die Erkenntnisse des Sammelbandes zu überprüfen und regional anzupassen, gab es bisher bei Tagungen in Asunción und Medellín, denen bereits Publikationen gefolgt sind. Derzeit in Vorbereitung ist ein Sonderheft des Chinese Journal of Transnational Law, in dem es um Themen wie beispielsweise grenzüberschreitende Umweltschäden, Nachhaltigkeit in globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten oder intraregionale Migration gehen soll. Parallel dazu läuft ein Projekt, das sich mit ähnlichen Fragestellungen im afrikanischen Kontext befasst und dessen Ergebnisse im nigerianischen Journal of Sustainable Development Law and Policy veröffentlicht werden. So sollen in der Gesamtschau Lateinamerika – Afrika – Asien die zunächst im weltweiten Austausch formulierten Fragestellungen und Thesen auf rechtsvergleichender Ebene vertieft werden.
Neuer Blick auf Grundlagen
Eine weitere Dimension sieht Michaels in der Frage, inwieweit die Betrachtung des IPR unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit grundlegend neue Erkenntnisse über diese Rechtsdisziplin als Ganzes bringen kann: „Zum klassischen Instrumentarium des IPR gehört in erster Linie die Funktion der Koordinierung. Wenn es um die Verwirklichung nachhaltiger Entwicklungsziele geht, kommen zwei weitere Funktionen des IPR zum Tragen, die sich aus dem materiellen Privatrecht ableiten lassen – die der Regulierung und jene der Ermöglichung.“
„Das Privatrecht wird traditionell als Raum für die
private Selbstorganisation gesehen,
und damit weit entfernt von den existenziellen Fragen unserer Zeit.“
– Institutsdirektor Ralf Michaels –
Was bedeutet das konkret? Der Regulierung dienende Normen haben zumeist eine Schutzfunktion. Das IPR regelt beispielsweise den Schutz von Personen, die sich bei bestimmten Rechtsgeschäften in einer wirtschaftlich schwächeren Position befinden als ihre Gegenpartei, wie etwa Arbeitnehmer*innen oder Verbraucher*innen. Dieses Ungleichgewicht wirkt sich in grenzüberschreitenden Szenarien häufig schwerer aus als im innerstaatlichen Kontext. Besondere Vorschriften gibt es etwa auch, um Menschen vor grenzüberschreitenden Umweltschäden zu schützen. Um der Nachhaltigkeit besser dienen zu können, sollte aber, so Michaels, auch die ermöglichende Funktion des IPR genutzt werden: Verträge und Eigentumsrechte etwa könnten verstärkt und über Grenzen hinweg wirksam gemacht werden, wo sie ihrerseits der Nachhaltigkeit effizienter und besser dienen können.
Radikales Umdenken
„Die Privatautonomie ist wesentlich dadurch legitimiert, dass Akteure in Eigentums- und Vertragsrechten Nutzen für sich selbst erzeugen, aber keine negativen Auswirkungen auf andere. Faktisch ist eine solche Herstellung von Nutzen ohne Kosten aber nicht denkbar. Im Privatrecht werden diese Kosten stillschweigend externalisiert, das heißt, auf andere abgewälzt. Insbesondere sind das der Globale Süden, die Natur und zukünftige Generationen“, beschreibt Michaels das Dilemma.
Wie steht es aber mit rechtlichen Schranken, die der Freiheit des Eigentums im Sinne des Allgemeinwohls Grenzen setzen? Hat die Ausübung von Eigentumsrechten negative Auswirkungen, greifen grundsätzlich die privatrechtlichen Regelungsmechanismen der Delikts- und Vertragshaftung. Hinzu kommen Eingriffe durch das öffentliche Recht, wie beispielsweise das Recht auf Reparatur oder eine vom Modell der Kreislaufwirtschaft abgeleitete erweiterte Herstellerverantwortung. Deren Geltung beschränkt sich aber mehr oder weniger auf innerstaatliches Recht, und, so Michaels, ihre Wirkungsmacht steht in keinem Verhältnis zur Dimension der ökologischen Krise, die die Menschheit zu bewältigen hat. Er plädiert dafür, bei den Grundlagen der Privatautonomie anzusetzen: „Wir müssen radikal umdenken, hin zu zirkulären Vertragsverhältnissen und Eigentumsrechten als Verantwortungsrechten.“ Forderungen an das öffentliche Recht, im Sinne der Nachhaltigkeit lenkend einzugreifen, setzt er entgegen: „Das Privatrecht wird traditionell als Raum für die private Selbstorganisation gesehen, und damit weit entfernt von den existenziellen Fragen unserer Zeit. Wir können die Lösung von Nachhaltigkeitsfragen aber nicht einfach an das öffentliche Recht auslagern, sondern müssen das Privatrecht neu denken. Und zwar dringend.“
Headergrafik und Porträt Ralf Michaels:
© Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering