Rechte der Natur im Aufwind

Rechte der Natur im Aufwind

Private Law Gazette 2/2022 – In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Recht weltweit zu einem wichtigen Forschungsgegenstand geworden. Inzwischen wurde die Natur in so unterschiedlichen Ländern wie Ecuador, Bolivien, Neuseeland, Indien und Uganda als Rechtssubjekt anerkannt. Diese weltweite Bewegung hat auch Europa erreicht, wo die Implementierung von Rechten der Natur bereits in mehreren Ländern diskutiert und angestrebt wird. So wurde jüngst mit der an der spanischen Mittelmeerküste gelegenen Lagune Mar Menor einem Ökosystem Personenstatus verliehen.

Wird der Natur Rechtsautonomie zugesprochen, so stellt dies traditionelle Vorstellungen von Umweltschutz auf den Kopf. Was bedeutet dieser sich global abzeichnende Paradigmenwechsel? Welche Rolle könnten Rechte der Natur zukünftig spielen? Lässt sich durch sie eine ökologische Transformation herbeiführen? Im Rahmen seiner Forschung zu nachhaltigem Recht und zur Dekolonialisierung des Rechts hat Institutsdirektor Ralf Michaels das Thema aufgegriffen, um es rechtsvergleichend einzuordnen. Gemeinsam mit Daniel Bonilla Maldonado, Professor an der Universidad de los Andes, Kolumbien, hat er im Oktober 2022 beim XXIst General Congress der International Academy of Comparative Law in Asunción, Paraguay, einen General Report zum Thema „Global Legal Pluralism – Rights of Nature“ vorgestellt.



„Das so geschaffene neue juristische Wissen könnte überall auf der Welt nutzbar gemacht werden, um die Verantwortung des Rechts für die planetare Krise des 21. Jahrhunderts zu überdenken und wirksame rechtliche Antworten zu finden.“

– Institutsdirektor Ralf Michaels –


Ihr Bericht beginnt mit einer Bestandsaufnahme, die Dimension und Gewichtung dieses globalen Diskurses in Zahlen fasst: Zwischen 2006 und 2021 gab es weltweit über 400 Initiativen, die sich auf Rechte der Natur berufen haben. Die meisten von ihnen sprechen der Natur als Ganzes Rechte zu. Rund zwanzig Prozent beziehen sich auf Flüsse sowie andere aquatische Ökosysteme und rund zehn Prozent auf Tiere. Die überwiegende Mehrheit der Initiativen, nämlich achtzig Prozent, waren auf dem amerikanischen Kontinent aktiv. Neunzig Prozent aller Initiativen kommen aus einem Kreis von nur 39 Ländern. 2008 war Ecuador das erste Land der Welt, das einklagbare Rechte der Natur in seine Verfassung aufgenommen hat. Bolivien folgte 2010 und 2012 mit der Verabschiedung entsprechender Gesetze. Hinzugekommen sind unter anderem Argentinien, Panama, Indien und Neuseeland.

Impulse aus der Peripherie

„Die Vorreiter für die Formulierung von Rechten der Natur sind Länder des Globalen Südens“, stellt Michaels fest. „Dort werden die Traditionen indigener Völker als Wissensquellen verstanden, die innovative Denkansätze für die Beziehung zwischen Mensch, Natur, Recht und Wirtschaft bieten.“ So haben Staaten, die ansonsten nicht zu den weltweit tonangebenden Rechtsordnungen gehören, mit neuen juristischen Modellen bereits einen erkennbaren Wandel im internationalen Recht bewirkt. Das 2009 von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene Programm „Harmony with Nature“, das den 22. April zum Internationalen Tag der Mutter Erde erklärt hat, verweist explizit auf eine Evolution vom herkömmlichen Umweltrecht hin zu Rechten der Natur.

Wegweisende Konzepte

Es ist nicht nur die Zuweisung von Rechtsautonomie, wodurch sich die in Gesetz gegossenen Rechte der Natur fundamental von westlich geprägtem Recht unterscheiden. Mit den Regelungen Ecuadors, Boliviens sowie Neuseelands haben Michaels und Bonilla drei prototypische Modelle genauer unter die Lupe genommen. Was ihnen gemeinsam ist: Sie verbinden modernes Recht mit religiösen Grundsätzen indigener Völker. Sie verstehen den Menschen als Teil der Natur. Sie untersagen die Disruption des Ökosystems und fordern die Beachtung von Grundsätzen der Interdependenz und Gegenseitigkeit. Zudem sind die Regelungen das Ergebnis politischer Prozesse, die dem multikulturellen Gefüge dieser Staaten Rechnung tragen. „Das so geschaffene neue juristische Wissen könnte überall auf der Welt nutzbar gemacht werden, um die Verantwortung des Rechts für die planetare Krise des 21. Jahrhunderts zu überdenken und wirksame rechtliche Antworten zu finden”, sagt Michaels.

Anstoß zum Perspektivwechsel

Welchen Perspektivwechsel müssten Länder des Globalen Nordens vollziehen, um die mit den Rechten der Natur verbundene Denkweise sinnvoll zu integrieren? „Die Rechte der Natur stellen die Auffassung von unserer natürlichen Umwelt als Objekt, das ausschließlich zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse existiert, und als Eigentum, das der Mensch unbegrenzt ausbeuten kann, infrage“, sagt Michaels. „Selbst wenn noch nicht geklärt ist, wie die Stimme der Natur gehört werden kann oder wie sie zu interpretieren ist, bedeutet der Versuch, dies zu tun, eine wichtige Abkehr von der anthropozentrischen Sichtweise des modernen westlichen Rechts.“

Bottom-up-Transformation

„Die Rechte der Natur sind ein spannendes Thema für die Rechtsvergleichung nicht zuletzt deshalb, weil hier ein Rechtsinstitut aus dem Globalen Süden den Globalen Norden inspiriert, und nicht umgekehrt wie sonst meist – also um ein reverse legal transplant”, sagt Michaels. „Entgegen der vorherrschenden politischen Ökonomie juristischen Wissens konnten sich hier Ideen durchsetzen, die in Ländern mit relativ geringer Wirtschaftsmacht entwickelt wurden. Hinzu kommt der bemerkenswerte Einfluss, den diese Länder mit den Rechten der Natur auf das Völkerrecht nehmen konnten.“

Wie war es möglich, dass Rechtskonzepte des Globalen Südens diese transformative Wirkung entfalten konnten? Die Gründe, die Michaels und Bonilla dafür gefunden haben, stellen bisherige rechtsvergleichende Theorien über die Bedingungen rechtlichen Wandels auf den Prüfstand: „Es war im Wesentlichen eine von wechselseitiger Befruchtung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren sowie von Dialog und gegenseitigem Lernen zwischen Rechtssystemen getragene Entwicklung.“

Zudem stellen die beiden Wissenschaftler fest, dass die Rechte der Natur heute Gegenstand eines globalen Diskurses sind, der von einem über Jahrzehnte gewachsenen Netzwerk von Wissenschaftler*innen vieler unterschiedlicher Disziplinen geprägt wurde. Nicht zuletzt dieses Engagement hat bewirkt, dass die Rechte der Natur von einem Forschungsgegenstand zu einem Thema für die nationale und die internationale Politik geworden sind.

Der Generalbericht soll zusammen mit 25 Länderberichten und themenspezifischen Berichten bei Intersentia veröffentlicht werden. Zudem geben Bonilla und Michaels gemeinsam mit Patricia Zalamea, Dekanin der Fakultät für Kunst und Geisteswissenschaften an der Universidad de los Andes, eine Schwerpunktausgabe des Online-Magazins „Naturaleza y Sociedad“ heraus, in dem das Thema interdisziplinär behandelt wird.





Headergrafik: © Grafische Elemente aus Shutterstock/SpicyTruffel

Portrait: © Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering

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