Von Generation zu Generation
Vermögenstransfer durch Erbrecht, Vertrag und religiöse Stiftungen im islamischen Recht
Traditionelle Vorstellungen von Familie, Ehe und Elternschaft haben in den letzten Jahrzehnten weltweit große Veränderungen erfahren. Gesetze, gelebtes Recht und soziale Realität stehen dabei oft in einem Spannungsverhältnis zueinander. Mit den zivilrechtlichen Entwicklungen in den islamischen Ländern beschäftigt sich am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht seit 2009 die Forschungsgruppe „Das Recht Gottes im Wandel“ unter der Leitung von Nadjma Yassari. Ein aktueller Schwerpunkt ihrer Arbeit ist das Erbrecht.
Wie wird Vermögen an die nächste Generation übertragen? Inwieweit besteht die Möglichkeit, das Erbe letztwillig zu verteilen? Was ist die Rolle des Staates? Welche Familiensysteme werden durch die Rechtspraxis aufrechterhalten oder sind in Veränderung begriffen? Antworten auf diese und andere Fragen sollen in einem mehrjährigen Forschungsprojekt gefunden werden. Ein Blick auf die Landkarte der islamisch geprägten Welt macht die Komplexität des Vorhabens deutlich: Die Frage, ob es nur ein einziges islamisches Recht gibt, oder mehrere unterschiedliche islamische Rechtsordnungen existieren, wird bis heute diskutiert. Fest steht: Innerhalb des vom „Recht Gottes“ bestimmten Rahmens findet jedes Land eigene Lösungen.
Gemeinsame Tradition mit großer Vielfalt
So ist das Erbrecht beispielsweise im Iran umfassend kodifiziert, wohingegen es in Saudi-Arabien kein in formelles Gesetz gegossenes Erbrecht gibt, und erbrechtliche Regelungen den Auslegungen islamischer Gelehrter entnommen werden. Andere Länder, wie etwa der Irak, haben ihr Erbrecht nur zum Teil gesetzlich geregelt. Woher kommt diese Vielfalt?
„Die einzelnen Strömungen des Islam haben ihr jeweils eigenes Erbrecht entwickelt und auch innerhalb dieser Strömungen gibt es Unterschiede. Was alle islamischen Rechtsgelehrten verbindet, sind die Konzepte und Begrifflichkeiten, mit denen sie arbeiten“, erklärt Nadjma Yassari. „Indem sie dieselben Grundtexte interpretieren, sind sie in der islamischen Rechtstradition vereint.“
Unterschiede zur europäischen Rechtstradition
Von den europäischen Rechtsordnungen, die sich aus der Tradition des römischen Rechts entwickelt haben, unterscheidet sich das islamische Erbrecht in mehreren grundlegenden Aspekten, so etwa in der Reichweite der Testierfreiheit oder der Geschlechterparität. Die Möglichkeit, sein Vermögen letztwillig zu übertragen, ist im islamischen Recht stark beschränkt. Ein Zwangserbrecht mit festen Quoten sieht vor, dass eine Person nur über ein Drittel ihres Nachlasses frei verfügen kann. Manche Gelehrte beschränken außerdem den Kreis der Personen, die überhaupt mit einer letztwilligen Verfügung bedacht werden können.
„Das islamische Erbrecht behandelt Frauen und Männer grundsätzlich ungleich“, sagt Dominik Krell, wissenschaftlicher Assistent in der Forschungsgruppe. „In unserer Forschung geht es zurzeit maßgeblich darum, wie damit in der Praxis umgegangen wird.“
Als Beispiele nennt er zwei Phänomene aus zwei verschiedenen Rechtsordnungen: Iranische Eltern bedienen sich einer besonderen Vertragskonstellation, um ihr Vermögen schon zu Lebzeiten gleichberechtigt auf ihre Töchter und Söhne zu übertragen. In Saudi-Arabien hingegen kann beobachtet werden, dass Teile der Gesellschaft den Wunsch hegen, Vermögen innerhalb der väterlichen Linie zu bewahren. Es werden hierfür Familienstiftungen gegründet, deren Erträge nur männlichen Nachkommen zukommen sollen.
Interdisziplinäre Grundlagenforschung
Ein zentrales Anliegen des Forschungsprojekts ist es, ökonomische Aspekte und die soziale Funktion des Erbrechts zu beleuchten. „Wir befassen uns nicht in erster Linie mit der Berechnung von Erbteilen, sondern untersuchen den gesellschaftlichen Kontext von Vermögenstransfers zwischen Generationen“, beschreibt Nadjma Yassari das inhaltliche Programm des Projekts. Diese Art von Grundlagenforschung erfordert Fachkompetenzen, die über die rein juristische Expertise hinausreichen. Dem trägt die Forschungsgruppe Rechnung, indem sie als eines der wenigen Teams weltweit, die sich mit dem geltenden Recht islamischer Länder auseinandersetzen, interdisziplinär arbeitet. Neben Rechtswissenschaftler*innen gehören ihr auch Sozial-, Politik- und Islamwissenschaftler*innen an.
Langzeitperspektive
Ausgerichtet an der übergeordneten Zielsetzung der Forschungsgruppe, Transformationsprozesse und Reformen der islamischen Rechtsordnungen langfristig wissenschaftlich zu begleiten, ist das Erbrechtsprojekt auf mehrere Jahre angelegt. „Juristische Grundlagenforschung beschäftigt sich in Breite und Tiefe mit den großen Rechtsfragen unserer Gesellschaft“, sagt Nadjma Yassari. „Das soll uns darauf vorbereiten, dass wir dann, wenn komplexe Zusammenhänge in einem Rechtsfall akut werden, zu ihrer Beantwortung bereit sind.“
Headerbild: Erbrechtstabelle nach hanafitischem Recht.
© Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht / Johanna Detering