Sommerkonzil 2019

Dr. Kirsten Scholl: Europa – wohin gehen wir?

  • Datum: 08.07.2019
  • Uhrzeit: 16:00

Für das letzte Konzil vor der Sommerpause laden die Direktoren traditionell einen auswärtigen Gast an das Institut ein. Im Jahr 2019 war Dr. Kirsten Scholl, Leiterin der Abteilung Europapolitik im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie der Einladung gefolgt und berichtete unter dem Titel „Europa – wohin gehen wir?“ über die aktuellen Herausforderungen und Entwicklungen in der Europäischen Union.

Mit einer herzlichen Begrüßung stellte der geschäftsführende Direktor Reinhard Zimmermann Frau Dr. Scholl den zahlreichen Gästen vor. Für Herrn Zimmermann kehrte mit Frau Scholl eine alte Bekannte zurück – ihr Mann war viele Jahre Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl in Regensburg und hat bei ihm promoviert, und seitdem besteht eine enge Freundschaft zur Familie. Heute leitet Frau Scholl mit der Abteilung „Europapolitik“ im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie eine der zwei Abteilungen, die die deutsche Europapolitik auf Bundesebene maßgeblich prägen und koordinieren.

Licht und Schatten

„Europa ist ein paradoxes System – es hat das Höchstmaß an geistiger Einheit verwirklicht (jedenfalls das bisher beobachtet wurde) – und das Höchstmaß an Zerrissenheit in Hinsicht auf die Willenskräfte.“ Mit diesem aus ihrer Sicht nach wie vor höchst aktuellen Zitat des französischen Philosophen Paul Valery aus dem Jahr 1924 leitete die Referentin ihren Vortrag ein. In der Folge skizzierte sie die Lage, in der sich die Europäische Union derzeit befindet – ein Bild mit Licht und Schatten: Auch wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit in Deutschland derzeit weniger gefürchtet würden, hätten sich doch die Wachstumsprognosen eingetrübt. Auch hielten sich nicht sämtliche Mitgliedstaaten immer an alle Regeln. Mancherorts würden die gemeinsamen Werte von Multilateralität, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit in Frage gestellt.

Dr. Scholl beeilte sich jedoch klarzustellen, dass es auch Lichtblicke gebe: Insbesondere hätte die gestiegene Wahlbeteiligung der diesjährigen Europawahl gezeigt, dass den Bürgerinnen und Bürgern Europa am Herzen liege und dass die europa­skeptischen Kräfte nicht so stark seien, wie teilweise befürchtet worden war. Problematisch sei jedoch, dass infolge des Wahlergebnisses auch die Mehrheiten im Europäischen Parlament unklarer geworden seien.

Europäische Agenda 2019–2024

Im Folgenden ging die Referentin näher auf die inhaltlichen Schwerpunkte der neuen Strategischen Agenda 2019–2024 ein. Zum einen sei ein einheitliches europäisches Wirtschaftsgesetzbuch weiter aktuell, auch wenn die Planung derzeit noch vage sei. Insbesondere eine französische Arbeitsgruppe sei derzeit mit Vorarbeiten beschäftigt. Auch in Deutschland werde die Initiative unterstützt, insbesondere im Justizministerium habe man jedoch Vorbehalte und wolle man insbesondere das „geheiligte BGB“ schützen. Auf Nachfrage erläuterte Dr. Scholl, dass ein „top-down“-Ansatz eher erfolgversprechend sein könnte, weil in der Politik schnell der Eindruck entstehe, dass, wenn sich mehrere aus Wissenschaftler*innen zusammengesetzte Arbeitsgruppen mit einem Thema beschäftigten, das Thema dabei nicht hinreichend zielstrebig verfolgt würde.

In Sachen Industrie- und Wettbewerbspolitik machte die Referentin klar, dass aus ihrer Sicht und aus Sicht ihres Hauses der Blick auf den immer stärker globalisierten Wettbewerb gelenkt werden und die Frage nach einem „global level playing field“ stärker in den Vordergrund gerückt werden müsse. Wie sei mit starken, staatlich finanzierten Unternehmen umzugehen und wie könne die Autonomie und die internationale Führungsrolle deutscher und europäischer Unternehmen gesichert werden? Man müsse in diesem Kontext auch über eine Reform des europäischen Wettbewerbsrechts und über „european champions“ nachdenken. In diese Richtung gehe etwa die Genehmigung von erheblichen staatlichen Fördermitteln durch die Europäische Kommission, wie sie Ende des letzten Jahres für das erste „Important Project of Common European Interest“ erfolgt war. Mit diesem Projekt soll die Forschung an und die Entwicklung von mikroelektronischen Technologien und Komponenten gefördert werden.

Brexit

Dr. Scholl ließ natürlich auch den Brexit nicht unerwähnt. Der Austritt des Vereinigten Königreichs führe keineswegs dazu, dass Englisch als Amtssprache der EU nun abgeschafft werde: Zum einen sei Englisch nach wie vor in Irland und Malta und damit in zwei Mitgliedstaaten Amtssprache. Zum anderen habe sich Englisch in Brüssel und Straßburg so sehr durchgesetzt, dass es auf jeden Fall bleiben werde – wenngleich vielleicht als europäisches „pidgin English“.

Angesichts des Brexit werde die Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich in Zukunft wichtiger. Deutschland müsse den Blick indes weiten: Enge Partnerschaften mit den Niederlanden, Italien, aber auch mit östlichen Mitgliedstaaten und den Westbalkanstaaten gewönnen zunehmend an Bedeutung. Insbesondere zu Polen seien die Arbeitsbeziehungen schon sehr gut. Solche neuen Verbindungen böten auch neue Lösungen, die vorher und in alten Konstellationen eher schwierig gewesen wären. Außerdem sei es wichtig, dass gerade bei den östlichen Mitgliedstaaten nicht der Eindruck entstehe, man wolle sie ausschließen. Ihren Vortrag schloss Dr. Scholl mit einem Ausblick auf die Ratspräsidentschaft ab Juli 2020, die Deutschland dann erstmals seit 2007 wieder für ein halbes Jahr übernehmen kann. Daran arbeite ihr Ministerium derzeit, denn: Europa ist unsere gemeinsame Zukunft.  

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