Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie

Distinguished Lecture von Prof. Dr. Marietta Auer

24. Juli 2017

Am 24. Juli 2017 fand am Hamburger Max-Planck-Institut eine Vorlesung im Rahmen der Distinguished Lectures Series der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion (GSHS) der Max-Planck-Gesellschaft statt. Prof. Dr. Marietta Auer, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Dekanin des dortigen Fachbereichs Rechtswissenschaft, widmete sich in ihrem Vortrag der Frage des Erkenntnisziels der Rechtstheorie. Sie gab damit einen Überblick über ihr methodisches Credo und ließ die Zuhörerschaft an dem Kern ihrer wissenschaftlichen Arbeit teilhaben.

Einführend erläuterte Marietta Auer das herkömmliche Verständnis der Rechtstheorie als analytische Unterdisziplin der Rechtsphilosophie, wo all das seinen Platz habe, was sich nicht unter den „normativen Kunstbegriff der Rechtsethik“ als zweite Unterdisziplin der Rechtsphilosophie fassen lasse. Eines der Hauptanliegen der Referentin war es, mit diesem Verständnis aufzuräumen, denn ihrer Ansicht nach ist die hergebrachte Rechtstheorie „tot“ und kann nicht länger als sinnstiftende Grundlage der Disziplin dienen.

Marietta Auer unternahm denn auch nicht weniger als eine grundlegende Neuausrichtung der Rechtstheorie. Da sie die Rechtstheorie weiterhin als mit der Rechtsphilosophie verknüpft ansieht, war darüber hinaus auch eine Neujustierung des Verständnisses der Philosophie notwendig.

In einem ersten Schritt beleuchtete Auer die von vielen beklagte dysfunktionale Trennung zwischen Dogmatik und Grundlagenfächern. Es sei das hergebrachte Verständnis, dass man entweder das eine oder das andere betreiben könne. Der Zwischenraum zwischen diesen beiden Polen und was die Interaktion von Grundlagen und Dogmatik beitragen könne, sei weitgehend unbeantwortet – indessen sei gerade dies interessant und bedürfe näherer Analyse.

Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Zweitens erläuterte Marietta Auer den aktuellen Begriffsumriss der Rechtstheorie im Spannungsfeld zwischen Trojanischem Pferd für fachfremde Wissenschaftskulturen und „Juristenphilosophie“. Hierbei stellte sie zunächst noch einmal das hergebrachte Verständnis und Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie heraus und widmete sich anschließend dem sich immer schneller vollziehenden thematischen Wandel der Rechtstheorie. Das einstige Sammelbecken „Rechtstheorie“ sei seiner Stellung als Unterdisziplin der Rechtsphilosophie entwachsen und stelle mittlerweile vielmehr den Oberbegriff interdisziplinärer Grundlagenforschung schlechthin dar. Anhand einer Titelanalyse des einschlägigen Schrifttums seit 1990 machte Marietta Auer d eutliche, w ie e s z u e iner F ragmentierung, P luralisierung und Repolitisierung der Disziplin gekommen sei: Aspekte wie ökonomische Analyse des Rechts, systemtheoretische Rechtssoziologie, ein erweitertes (europäisiertes, internationalisiertes) Verständnis des Rechtsbegriffs und der Rechtsquellenlehre sowie Neues zu Machttheorie, Machtsoziologie Globalisierung und Governance, aber auch Stichworte wie Ausnahmezustand, Schutzverantwortung, Biopolitik, Bioethik, Risikogesellschaft und Paternalismus prägten das rechtstheoretische Schrifttum mit zunehmender Geschwindigkeit. Damit, so Auer, sei die Rechtstheorie inzwischen allgemeiner (aber auch diffuser) als die Rechtsphilosophie selbst, und die hergebrachten Fachgrenzen der Philosophie eigneten sich nicht länger als adäquate Umgrenzung der Rechtstheorie – es wedle sprichwörtlich der rechtstheoretische Schwanz mit dem rechtsphilosophischen Hund.

Rechtstheorie zwischen Dogmatik und außerjuristischer Wissenschaftskultur

Drittens, als Kernstück ihres Vortrages, entwickelte Marietta Auer ihr eigenes Verständnis von Rechtstheorie. Hierzu nahm sie zunächst Bezug auf die dargestellte neue Vielfalt im Schrift tum und stellte der neuen Interdisziplinarität ein sehr wohlwollendes Zeugnis aus: es sei gut und begrüßenswert, dass mittels der Rechtstheorie nun auch andere Disziplinen in die Rechtswissenschaft Eingang fänden, denn nur so sei die Rechtstheorie zukunftsfähig. Das sich hieraus neu entwickelnde Amalgam aus unterschiedlichen Theorieelementen könne freilich keinem der bisherigen Grundlagenfächer zugeordnet werden, es sei Theorieeklektizismus; oder mit den Worten des amerikanischen Rechtswissenschaftlers Duncan Kennedy fancy theory. Darüber hinaus sei es, so Auer, für ein Gelingen dieser neuen Interdisziplinarität keineswegs nötig (und wohl auch nicht möglich), dem methodischen Selbstverständnis der importierten Fachwissenschaften vollständig gerecht zu werden. Vielmehr gelte auch hier Kennedys Postulat vom Assimilieren, Kannibalisieren und vom Nutzbarmachen anderer Theorien. Dieses Vorgehen werde dann notwendigerweise zu etwas Neuem führen: eine neue Rechtstheorie zwischen Dogmatik und außerjuristischer Wissenschaftskultur. Dies sei ein spannendes und interessantes Feld, mit dem sich auch die eingangs beklagte dysfunktionale Entgegenstellung von Dogmatik und Grundlagen aufheben lasse. Trotz ihrer sehr positiven Grundeinstellung fügte Marietta Auer das caveat an, dass natürlich zunächst abzuwarten sei, ob sich dieser neue Theorieeklektizismus auch langfristig als wissenschaftlich ertragreich erweisen werde.

Marietta Auer sieht in dieser Neuausrichtung mehr als nur die Kompensation einer inneren Leere der Grundlagenfächer. Ihrer Auffassung nach besitzt die Rechtstheorie vielmehr weiterhin und gerade jetzt ausreichend eigene Substanz, um wissenschaftliche Lebensprojekte zu füllen; ihre Substanz und ihr Erkenntnisziel zöge die Rechtstheorie allerdings weiterhin aus der Philosophie: das Erkenntnisziel der neuausgerichteten Rechtstheorie definiert Marietta Auer damit als „philosophisch fundierte Theorie einer multidisziplinär ausgerichteten Rechtswissenschaft“.

Philosophie als Herkunftswissenschaft allen multidisziplinären Fragens

Die von ihr angestrebte Rückbindung an die Philosophie sei nur dann möglich, wenn sich zugleich ein neues Verständnis vom Begriff der Philosophie selbst durchsetze. Letzteres sei ohnehin geboten, denn die Philosophie habe längst ihren inhaltlichen Anspruch als Leitwissenschaft an die Fachdisziplinen abgegeben. Sie existiere dennoch fort als die „Mutterwissenschaft aller Wissenschaften“ mit einem umfassenden Frageanspruch. Die Philosophie stehe damit immer in zweiter Reihe parat, wenn es darum gehe, verschiedene Versatzstücke des Wissens zu verbinden oder danach zu fragen, weshalb ein bestimmter Wissenssatz für eine bestimmte Frage von Relevanz sein solle. Marietta Auer definierte die so verstandene Philosophie prägnant als „Herkunftswissenschaft allen multidisziplinären Fragens“.

Als Rechtsphilosophie möchte Auer dieses neue Feld dennoch nicht verstanden bzw. betitelt wissen, denn aus ihrer Sicht ist der Begriff der Rechtsphilosophie zu stark den Themen der Disziplin aus dem 19. und 20. Jahrhundert verhaftet. Auch der Begriff „Rechtstheorie“ sei mehr eine behelfsmäßige Lösung, da auch er eigentlich zu diffus sei; einstweilen könne und müsse er aber herhalten.

Schließlich stellte Marietta Auer in einem vierten Schritt drei Anwendungs- und Forschungsfelder für die von ihr neu aufgestellte Rechtstheorie dar: sie machte deutlich, wie sich mithilfe dieser Disziplin in den Bereichen Recht und Moderne, Recht und Methode sowie Recht und Medialität neue Ergebnisse erzielen lassen und wie die Rechtstheorie zudem dazu beiträgt, die verschiedenen Bereiche miteinander zu verknüpfen.

Ihre Ausführungen schloss Marietta Auer mit drei zusammenfassenden Thesen: Erstens sei es nicht weiterführend, Rechtsdogmatik und Grundlagenfächer innerhalb der Rechtswissenschaft als getrennte Bereiche zu begreifen und von den Grundlagenwissenschaften eine Antwort auf die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft zu erwarten. Zweitens entwickle sich im Zwischenbereich zwischen Dogmatik und Grundlagenfächern eine neue Rechtstheorie, die sich keinem einzelnen Grundlagenfach zurechnen ließe, sondern ein Amalgam aus unterschiedlichen Theorieelementen generiere. Ob dieser Theorieeklektizismus langfristig wissenschaftlich ertragreich sein werde, bleibe zu erweisen. Drittens schließlich lasse sich das Erkenntnisziel dieser neuen Rechtstheorie als philosophisch fundierte Theorie einer multidisziplinären Rechtswissenschaft beschreiben. Vorausgesetzt sei dabei ein Verständnis von Philosophie als Herkunftswissenschaft allen multidisziplinären Fragens.

Dem Vortrag folgte eine angeregte Diskussion. Erklärtes Ziel ihres Vortrages war es, das Interesse der Zuhörer an der Rechtstheorie zu wecken – oder zu fördern. Dies ist Marietta Auer mit ihrem fulminanten Plädoyer sicherlich gelungen.

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