Rechtsvergleichung und Dekolonialität
Jahrestreffen des Vereins der Freunde
Das Jahrestreffen des Vereins der „Freunde des Hamburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht e.V.“ fand am 26. Juni 2021 in virtueller Form statt. Im wissenschaftlichen Teil der Veranstaltung stellte sich Institutsdirektor Ralf Michaels den Freunden und Alumni vor und sprach über eines seiner großen Forschungsprojekte: die dekoloniale Rechtsvergleichung.
Nachdem das wissenschaftliche Symposium des Jahrestreffens 2020 pandemiebedingt ausfallen musste, konnte dieses im Jahr 2021 als Videokonferenz stattfinden. Die Teilnehmer*innen bedauerten zwar, dass ein persönliches Zusammentreffen angesichts der Pandemielage immer noch nicht möglich war; dennoch waren sie dankbar für die Gelegenheit, sich zumindest online treffen und austauschen zu können.
So hatte sich vielen der Freunde und Alumni bisher noch keine Chance geboten, Institutsdirektor Ralf Michaels persönlich kennen zu lernen. Im Rahmen des Jahrestreffens 2021 konnte dies nachgeholt werden. Ralf Michaels stellte sich und seine Forschungsagenda vor und gab einen tieferen Einblick in eines seiner großen aktuellen Forschungsprojekte: die dekoloniale Rechtsvergleichung.
Pluriversalität als Gegenentwurf zur Kolonialität in der Rechtsvergleichung
In seinem Vortrag „Dekolonialität – Herausforderung für die Rechtsvergleichung“ erläuterte Institutsdirektor Ralf Michaels den Forschungsansatz der dekolonialen Rechtsvergleichung. Diese untersucht, inwieweit das herrschende Verständnis von Recht durch ein Gespann von Moderne und Kolonialität strukturiert wird, und bietet dabei dekoloniale Alternativen zu diesem Verständnis. „Kolonialität“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur Kolonialismus, sondern vielmehr eine totalisierende und universalisierende Denkweise, die der Moderne zugrunde liegt.
Die herkömmliche Rechtsvergleichung beruht auf epistemischen Annahmen, die sich vor dem Hintergrund von Moderne und Kolonialität herausgebildet haben. Dies hat Auswirkungen auf mehrere zentrale Annahmen und Praktiken in der Rechtsvergleichung: die Anknüpfung an den Nationalstaat als analytische Kategorie, die Bevorzugung des säkularen Rechts vor dem religiösen Recht, die unterstellte Überlegenheit des modernen Rechts gegenüber präkolonialen oder antikolonialen Rechtstraditionen.
Dekolonialität versucht, durch das Konzept der Pluriversalität diese Zentrum-Peripherie-Struktur als zentralen Aspekt der Dualität von Moderne und Kolonialität zu überwinden. „Pluriversalität“ geht davon aus, dass mehrere Traditionen und Sozialordnungen gleichzeitig legitim sind. Anstelle einer Ausrichtung der Rechtsvergleichung am Ziel der Vereinheitlichung oder „Modernisierung“ von Recht setzt sich die dekoloniale Forschung dafür ein , Rechtvergleichung dafür zu verwenden, das Rechtsdenken zu dekolonialisieren und die Voraussetzungen für Pluriversalität im Recht zu schaffen. Eine dekoloniale Analyse offenbart die Dynamik der Kolonialität innerhalb der Rechtsvergleichung und trägt dadurch zur Überwindung dieser Dynamik bei.
Dekoloniale Rechtsvergleichung: Neue Perspektiven für Forschung und Praxis
Ralf Michaels illustrierte seinen Vortrag zur dekolonialen Rechtsvergleichung mit einem Exkurs in die Thematik der Frühehe. In diesem Zusammenhang erwähnte er das institutsweite Projekt einer Stellungnahme für das Bundeverfassungsgericht, in dem das Phänomen der Frühehe im Kontext unterschiedlicher Rechtsordnungen und -kulturen beleuchtet wird. Im Anschluss an seinen Exkurs stellte Ralf Michaels das Team dieses von ihm initiierten Forschungsprogramms vor und gab einen Ausblick auf zukünftige Aktivitäten.
Neben Ralf Michaels trug auch Justin Monsenepwo Mwakwaye (Université de Montréal) zur dekolonialen Rechtsvergleichung vor. In seinem Vortrag „Dekoloniale Rechtsvergleichung und Rechtstransfer nach Afrika“ sprach er sich für die Wiederentdeckung der vorkolonialen afrikanischen Rechtstradition und Rechtsphilosophie aus. Justin Monsenepwo Mwakwaye war von 2020 bis 2021 wissenschaftlicher Referent am Institut und Leiter des Kompetenzzentrums für Afrika, welches er vor seinem Ruf an die kanadische Université de Montréal gemeinsam mit Ralf Michaels am Institut etabliert hatte.
Der Verein der Freunde als internationales Netzwerk
Der Verein der „Freunde des Hamburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht e.V.“ wurde 1996 gegründet. Er bringt sowohl Alumni des Instituts als auch jene, die sich auf andere Weise mit dem Institut verbunden fühlen, in einem internationalen Netzwerk zusammen. Der Verein freut sich immer über neue Mitglieder. Beitreten können alle, die sich dem Institut verbunden fühlen. Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite des Vereins. Das nächste Jahrestreffen ist für den 17. und 18. Juni 2022 geplant. Thema des wissenschaftlichen Teils soll „Privatrecht und Klima“ sein.