China ermöglicht Prozessführung per Internet

11. Mai 2020

In China besteht seit 2017 die Möglichkeit, bestimmte Gerichtsverfahren ausschließlich online durchzuführen. Die Einreichung der Klage erfolgt dabei ebenso auf digitalem Weg wie ihre Zustellung an die gegnerische Seite. Kläger*innen und Beklagte müssen nicht vor Gericht erscheinen, da mündliche Verhandlungen per Videokonferenz abgehalten werden. Mit Einverständnis der Parteien kann auch das Urteil elektronisch zugestellt werden.

Die in Beijing, Guangzhou und Hangzhou errichteten Internetgerichte (z.B. https://www.netcourt.gov.cn) sind für bestimmte zivil- und verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zuständig, sofern ein gewisser Bezug zum Internet gegeben ist. Konkret genannt werden etwa Klagen zu Kaufverträgen einschließlich Produkthaftung sowie Dienstleistungen und Darlehen, die online abgewickelt werden. Angesichts der Bedeutung des Online-Shoppings in China könnte sich dieser neu geschaffene Rechtsweg rasch durchsetzen.

Im Rahmen seiner Forschung über die Durchsetzung von Verbraucherrechten in China hat Knut Benjamin Pißler, wissenschaftlicher Referent und Leiter des Kompetenzzentrums China und Korea am Institut, die gesetzlichen Grundlagen sowie die prozessualen Details der Internetgerichte untersucht. In einem soeben in der Zeitschrift für Chinesisches Recht erschienenen Aufsatz weist er auf zentrale rechtliche Fragestellungen hin, die sich daraus ergeben.

„Einiges spricht dafür, dass Beklagte sich dem Verfahren relativ leicht entziehen können“, sagt der Chinarechtsexperte. Bei Einreichung der Klage müssen sich Antragsteller*innen auf eigens dafür eingerichteten Internetprozessplattformen mit ihrer Mobiltelefonnummer, Personalausweisnummer oder Sozialkreditkennziffer ausweisen und die elektronischen Kontaktdaten der oder des Beklagten angeben. Mit der Zustellung der Klage an die gegnerische Partei wird diese aufgefordert, sich über ein digitales Identifikationsverfahren mit dem Fall zu verbinden. „Unklar ist, welche Auswirkung es hat, wenn Beklagte dieser Aufforderung nicht nachkommen.“

Umgekehrt stellt sich bei der Regelung der Zustellpflichten die Frage, ob den Beklagten ausreichend rechtliches Gehör gewährt wird. „Das Handbuch des Internetgerichts in Beijing legt nahe, dass eine wirksame Klagezustellung auch an eine elektronische Adresse erfolgen kann, die von der beklagten Seite in der Vergangenheit genutzt wurde. Eine Identitätsprüfung oder ein aktives Handeln auf Empfängerseite ist dabei nicht vorgesehen. Das bedeutet, dass man in der Vergangenheit genutzte E-Mail-Adressen oder Mobiltelefonnummern stets überwachen müsste, um von der Einleitung eines Prozesses gegen sich selbst zu erfahren“, sagt Pißler.

Aus seiner Sicht fehlt den Internetgerichten zudem eine sichere Rechtsgrundlage. Neue Gerichte dürfen nämlich nur durch einen Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses geschaffen werden. Rechtsgrundlage der Internetgerichte ist aber nur ein Beschluss der Kommunistischen Partei und eine justizielle Interpretation des Obersten Volksgerichts. Was zunächst nur theoretisch interessant erscheinen mag, kann in praktischer Konsequenz zu erheblichen Problemen führen. Sollten Urteile, die diese Gerichte erlassen, mangels Rechtsgrundlage keine Wirkung entfalten, lassen sie sich auch nicht auf dem Weg der Zwangsvollstreckung durchsetzen und sind damit eine Gefahr für die Rechtssicherheit.

Knut Benjamin Pißler, Rechtsinstitute zur Durchsetzung von Verbraucherrechten in China: Klagen im öffentlichen Interesse, Internetgerichte & Co., Zeitschrift für chinesisches Recht 2019, 355–374.

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