Zivilrecht in Lateinamerika

Zivilrecht in Lateinamerika

Eine in kultureller und sozio-ökonomischer Hinsicht so heterogene Region wie Lateinamerika auf einen Nenner zu bringen ist schwierig. Dennoch existieren gewisse Gemeinsamkeiten, die eine wissenschaftliche Bearbeitung aller lateinamerikanischen Länder sinnvoll ermöglichen. Dies sind neben dem gemeinsamen iberischen Erbe in Sprache und Kultur vor allem die gemeinsamen Wurzeln des Rechts der heutigen lateinamerikanischen Staaten.

War die Kolonialgesetzgebung in Brasilien und den spanischen Vizekönigreichen noch größtenteils ein mehr oder minder homogener Ableger der Gesetzgebung der iberischen Metropolen gewesen, so gingen die unabhängig gewordenen Nationen rasch eigene Wege. Getragen von der das 19. Jahrhundert prägenden Kodifikationsidee schufen herausragende Juristen wie etwa Bello in Chile, Vélez Sarsfield in Argentinien oder Teixeira de Freitas und Bevilaqua in Brasilien umfassende und technisch ausgereifte Zivilgesetzbücher. Die entsprechenden Códigos knüpften einerseits an das iberische Erbe an, waren zugleich aber auch stark von modernen Vorbildern aus Europa inspiriert, vor allem vom französischen Code civil, aber auch von der deutschen Pandektenwissenschaft. Einen besonderen Stellenwert nahmen zudem frühzeitige regionale Harmonisierungsbestrebungen ein, die sich in Regionalblöcken wie der Andengemeinschaft oder dem Mercosur fortsetzen.

Dass den in den letzten Jahren vorgenommenen oder geplanten Zivilrechtsnovellierungen (vor allem Brasilien und Argentinien) wie schon den ersten Kodifikationen eine tiefgründige rechtsvergleichende Auseinandersetzung mit europäischen Zivilgesetzbüchern zugrunde liegt, verdeutlicht die Bedeutung der Rechtsvergleichung im lateinamerikanischen Raum. Während die europäischen Rechtsordnungen daneben auch auf den Bereich des Zivilprozessrechts ausstrahlen, ist im Handels-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht der wachsende Einfluss des (hauptsächlich nordamerikanischen) common law unübersehbar. Materien wie das Kartellrecht sind in weitgehendem Maße sogenannte US-amerikanische legal transplants, deren rechtstatsächliche Umsetzung allerdings bisweilen stark vom Gesetzeswortlaut abweicht. Dies hebt die (generelle) Notwendigkeit hervor, bei Erforschung lateinamerikanischen Rechts das Augenmerk immer auch sehr stark auf die Rechtswirklichkeit zu legen.

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