Familienrecht in Afghanistan

Familienrecht in Afghanistan

(2003-2006)

Nach jahrzehntelangem Krieg stand Afghanistan vor der Aufgabe, Staatswesen, Justiz, Verwaltung und Hochschulen von Grund auf neu aufzubauen. Von 2003 bis 2006 widmete sich das Kompetenzzentrum zum Recht islamischer Länder dem Familienrecht in Afghanistan. Ziel des Projektes war es, das Familienrecht in Afghanistan zu erforschen und den Prozess der anstehenden Gesetzgebung im Familienrecht durch Seminare und Workshops in enger Kooperation mit afghanischen Juristen sowie durch Einbindung von Juristen aus anderen islamischen Ländern zu begleiten, um konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie in diesem sehr sensiblen Bereich nachhaltig Hilfestellung geleistet werden kann.

Der Fokus des Referates richtete sich daher von 2006 bis 2008 auf die Erstellung eines Lehrbuches zum afghanischen Familienrecht, das sowohl an Juristen als auch an Jurastudenten in Afghanistan gerichtet ist. Beweggrund für die Verfassung des Lehrbuches war zum einen die mangelnde Existenz juristischen Lehrmaterials zum afghanischen Familienrecht, und zum anderen hat es die Intention, mögliche Herangehensweisen für eine Familienrechtsreform aufzuzeigen. Das Konzept des Referats beruhte auf einer schrittweisen Vorgehensweise, die die Nachhaltigkeit des Projektes sowie die Umsetzung der Ergebnisse durch Multiplikatoren in Afghanistan zum Ziel hat.

Feldforschung

Um für die Anfertigung des Lehrbuches an fundierte Grundlageninformationen über die Rechtswirklichkeit in Afghanistan zu gelangen, fand im Winter 2004/2005 eine Feldforschung statt, in der die aktuelle Rechtslage im Familienrecht in neun afghanischen Provinzen (Kabul, Kandahar, Herat, Balkh, Badakhshan, Bamiyan, Nangarhar, Kunduz und Paktia) aufgenommen wurde. Hierbei führte ein Team afghanischer Juristen auf der Basis von zuvor vorbereiteten Fragebögen über 200 Interviews mit Richtern, Staatsanwälten, Dozenten der Rechts- und Scharia-Fakultäten, Angestellten staatlicher Institutionen, Mitgliedern zahlreicher internationaler Organisationen und NGOs, Mitgliedern lokaler Jirgas und Räte sowie der lokalen Bevölkerung beider Geschlechter und aller Altersgruppen und sozialer Schichten. Dabei wurden sowohl die offiziellen staatlichen Strukturen als auch informelle Streitbeilegungsmechanismen berücksichtigt. Themen der Interviews waren u.a. die Rechtsquellen, die Brautwerbung, das Verlöbnis, die Ehe und die Polygamie. Über die Ergebnisse der Feldforschung wurde 2005 ein Bericht erstellt.

Workshop

In einem weiteren Schritt veranstaltete das Institut unter Mitwirkung von internationalen Rechtsexperten im Juni 2006 einen dreitägigen Workshop zum afghanischen Familienrecht in Kabul. Im Vorfeld des Workshops wurde für die Teilnehmer eine Sammlung von Aufsätzen und Berichten zum afghanischen Familienrecht auf Dari zusammengestellt, die u.a. auch den Bericht über die durchgeführte Feldforschung beinhaltete. Am Workshop nahmen etwa 50 Juristen aus Kabul, Nangarhar, Balkh und Logar sowie Repräsentanten staatlicher Institutionen und Universitäten, Frauenvereinigungen und anderer nichtstaatlicher Organisationen teil. Schwerpunkte der Gespräche bildeten das materielle Familienrecht, wie Ehe- und Scheidungsrecht, insbesondere Früh- und Zwangsehen sowie die Polygamie, und das Verfahrensrecht, insbesondere die Nichtregistrierung von Angelegenheiten des Personalstatuts.

Lehrbuch

Das gesamte durch das Forschungsprogramm erarbeitete Material floss schließlich in das Lehrbuch zum afghanischen Familienrecht ein, das im Oktober 2008 fertig gestellt und auf Dari veröffentlicht wurde, 2010 folgte eine englische Übersetzung. Es umfasst alle familienrechtlich relevanten Themenbereiche, wie etwa die Brautwerbung, das Verlöbnis, das Ehe- und Scheidungsrecht sowie das Kindschaftsrecht, die auch weitgehend im afghanischen Zivilgesetzbuch von 1977 normiert sind.

Das Lehrbuch beschränkt sich aber nicht darauf, die verschiedenen Themenbereiche als solche ausführlich darzustellen, sondern zeigt zusätzlich auch Widersprüche einiger ausgewählter familienrechtlicher Bestimmungen und gewohnheitsrechtlicher Praktiken im Verhältnis zur afghanischen Verfassung von 2004 und zu bestimmten internationalen Abkommen, denen Afghanistan beigetreten ist, auf. Da eine Reform des Familienrechts als unentbehrlich erachtet wird, beinhaltet das Lehrbuch auch eine rechtsvergleichende Darstellung der bereits erfolgten Gesetzesreformen und Erneuerungen im Familienrecht in anderen islamischen Ländern. Für die künftige Neugestaltung des afghanischen Familienrechts sollten dem Gesetzgeber so exemplarisch verschiedene Herangehensweisen für eigene Reformen aufgezeigt werden.

In Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg diente das ins Dari übersetzte Lehrbuch schließlich in einem einwöchigen Seminar am Institut in Hamburg als Unterrichtsgrundlage zur Schulung afghanischer Dozenten der Universität Kabul. Seit Ende November 2008 werden in Afghanistan auf Grundlage des Lehrbuchs Trainingseinheiten zum Familienrecht für Richter, Justizbeamte und Universitätsdozenten abgehalten.

Publikationen

Nadjma Yassari (Hrsg.), The Sharia in the Constitutions of Afghanistan, Iran and Egypt - Implications for Private Law (Materialien zum ausländischen und internationalen Privatrecht, 45), Mohr Siebeck, Tübingen 2005, 571 S.

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