Keine Bange vor ausländischem Recht

11. Oktober 2023

Internationale Gerichtsfälle sind oft kniffelig. Die neuen "Hamburger Leitlinien" bieten Orientierung.

Von Ralf Michaels und Jan Peter Schmidt

Wer vertritt eine nach dem Recht der Cayman Islands gegründete Gesellschaft? Wann kann ein englisches Unternehmen von seinem deutschen Vertragspartner Schadenersatz wegen verspäteter Lieferung versprochener Metallröhren verlangen? Ist ein maschinenschriftliches Testament, das ein deutscher Tourist während eines Zypernurlaubs erstellt hat, formgültig?

Es dürfte niemanden erstaunen, dass solche Fragen in einer globalisierten Welt vor deutschen Gerichten auftauchen. Schon eher verwundern mag, dass die Gerichte in solchen Fällen oft ausländisches Recht anzuwenden haben. Aber so schreibt es das deutsche Recht vor, genauer das sogenannte Internationale Privatrecht. Im Kaufvertrag über die Metallröhren können die Parteien etwa englisches Recht gewählt haben; für das Gericht ist das dann bindend. Die Organisation einer Cayman-Gesellschaft kann nur nach deren Recht beurteilt werden. Und für die Formgültigkeit eines Testaments reicht es, wenn Erfordernisse beachtet wurden, die am Ort der Errichtung gelten.

Die Anwendbarkeit ausländischen Rechts führt zu einem offensichtlichen Problem: Deutsche Richter kennen sich dort in der Regel nicht aus. Und dennoch - die nächste Überraschung - behandelt unsere Zivilprozessordnung inländisches und ausländisches Recht im Prinzip gleich. Das kann die Justiz vor große Herausforderungen stellen: Denn auch ausländisches Recht muss nicht von den Parteien vorgetragen und gegebenenfalls bewiesen werden, sondern das Gericht muss seinen Inhalt selbst ermitteln.

Freilich gibt es dafür Hilfsmittel. Besonders etabliert hat sich das Sachverständigengutachten. Das Gericht beauftragt eine Person mit besonderer Expertise zum gesuchten ausländischen Recht. Meist sind die Gutachter deutsche Hochschullehrer oder Angehörige wissenschaftlicher Einrichtungen. Ausländische Experten mögen ihr eigenes Recht besser kennen, sind aber - abgesehen von möglichen Sprachbarrieren - weniger mit den spezifischen Bedürfnissen deutscher Gerichte vertraut und daher nicht immer gleichermaßen geeignet.

Von außen betrachtet, erscheint die Einholung und Verwertung von Gutachten zum ausländischen Recht als gut eingespieltes und weitgehend geräuschloses Zusammenwirken von Praxis und Wissenschaft. Im internationalen Vergleich wird ihr sogar Vorbildcharakter bescheinigt. Wer die Gutachtenpraxis aus der Innenperspektive kennt, sei es als Richter oder Sachverständiger, weiß freilich, dass das System zu Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts an manchen Stellen knirscht und ineffizient ist. Legendär ist ein Verfahren zum venezolanischen Recht der Schiffspfandrechte. Neben einem vom Gericht eingeholten Gutachten wurden nicht weniger als sieben Parteigutachten eingeholt - und der Bundesgerichtshof forderte, es müsse noch ein weiteres Gutachten erstellt werden.

Im Alltag sind die Probleme meist anderer Art. So sind die Beteiligten - Gerichte, Sachverständige, Parteien - sich nicht immer klar über ihre jeweiligen Rollen und deren Zusammenspiel. Die Folgen sind unnötige Kosten und Verzögerungen. Noch mehr Schwierigkeiten kann es bereiten, einen geeigneten und verfügbaren Gutachter zu finden. Die stetig wachsende Zahl von Fällen, in denen es auf ausländisches Recht ankommt, verschärft dieses Problem.

Aufgrund dieser Erfahrungen haben sich die Verfasser mit erfahrenen Wissenschaftlern und Vertretern aus Justiz, Anwaltschaft, Notariat sowie anderen Institutionen zusammengetan, um eine Art "best practices" des Umgangs mit ausländischem Recht niederzuschreiben. Das Ergebnis sind die "Hamburger Leitlinien zur Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts in deutschen Verfahren". Am 9. Oktober wurden sie am Hanseatischen Oberlandesgericht vorgestellt. Die Leitlinien, die im Internet frei zugänglich sind (http://hhleitlinien.de), speisen sich im Wesentlichen aus zwei Quellen. Die eine ist der maßgebliche Rechtsrahmen - einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und anderer Gerichte. Die andere sind die langjährigen Erfahrungen der an der Entstehung der Leitlinien beteiligten Personen.

Neben allgemeinen Vorschriften zu den Zielen der Gutachtenpraxis sowie der Rollenverteilung zwischen Gericht, Sachverständigem und Parteien enthalten die Leitlinien spezielle Informationen für die Gruppe der Richter, Sachverständigen und Verfahrensparteien. Dazu gehören große allgemeine Fragen: Wer hat zu klären, ob ausländisches oder doch deutsches Recht Anwendung findet? Das Gericht, nicht der Sachverständige. Aber auch kleine, sehr konkrete Fragen werden behandelt: Wann muss der Gutachter das Gericht darüber informieren, dass der eingeforderte Auslagenvorschuss nicht ausreichen wird? Unverzüglich für mindestens 20-prozentiges Überschreiten.

Mit den Leitlinien werden zwei Ziele verfolgt: So geht es darum, allen Beteiligten Orientierung zu bieten und den Umgang mit ausländischem Recht rechtskonform, transparent und effizient zu gestalten. Außerdem sollen mithilfe der Leitlinien Alternativen zum Beweismittel des Sachverständigengutachtens aufgezeigt werden. Gerichte sollen ermutigt werden, in einfach gelagerten Fällen das ausländische Recht selbst zu ermitteln. Neben Internetquellen und Übersetzungsprogrammen gibt es mittlerweile reichhaltige deutsche Literatur zum ausländischen Recht. Indem die Gerichte selbst herausfinden, was das ausländische Recht sagt, lassen sich Kosten und Zeit für die Justiz und die Verfahrensparteien sparen. Und die wissenschaftlichen Institute würden etwas weniger unter der Gutachtenlast ächzen.

Ralf Michaels ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg. Jan Peter Schmidt ist dort wissenschaftlicher Referent.

 


Erstveröffentlichung: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2023, Nr. 237, S. 16

 

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