Nachruf auf Direktor emeritus Ernst-Joachim Mestmäcker

(* 25.9.1926  † 22.4.2024)

1. Juli 2024

1. Ernst-Joachim Mestmäcker war einer der ungewöhnlichsten Privatrechtsdenker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit seinem interdisziplinär geschulten Blick hat er maßgeblich am Aufbau einer wirtschaftlichen Nachkriegsordnung in Deutschland und Europa mitgewirkt, die auf subjektiven Freiheitsrechten beruht. Viele werden seinen Namen zuerst mit dem Europäischen Wettbewerbsrecht in Verbindung bringen – ein Rechtsgebiet, das er miterschuf und tief prägte. Aber sein Wirken ging weit über das Wettbewerbsrecht hinaus. Ankerpunkt seines Denkens war eine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre Inspiration aus den grundlegenden Texten der europäischen Aufklärung gewann und diese für die Weiterentwicklung des Privat- und Wirtschaftsrechts fruchtbar machte. Mestmäckers Fähigkeit, ökonomische, philosophische und rechtstheoretische Diskurse in juristische Kategorien zu übersetzen, sucht bis heute ihresgleichen.

Geboren am 25. September 1926 in Hameln zählte Mestmäcker zu jener Wissenschaftlergeneration, die den Zweiten Weltkrieg noch unmittelbar miterlebt hatte. Ausgestattet mit dem Notabitur verbrachte er das letzte Kriegsjahr als Soldat an der Ostfront. Verletzt entkam er mit Mut und Glück der russischen Kriegsgefangenschaft. Seine Kriegserfahrungen hat er nie öffentlich angesprochen. Gleichwohl haben sich sein Denken und Wirken vor diesem Hintergrund entfaltet. Sein konsequent von individuellen Freiheitsrechten ausgehendes Lebenswerk ist das Gegenbild zum nationalsozialistischen Projekt, welches das Privatrecht kurzerhand abschaffen und dem Einzelnen Rechte und Pflichten nur als Glied einer Volksgemeinschaft zugestehen wollte. Mestmäckers lebenslanges Engagement für ein rechtlich verfasstes Europa setzt den Gedanken der von subjektiven Rechten getragenen dezentralen Koordination auf supranationaler Ebene fort. Ein von individuellen Freiheitsrechten geleitetes Europa war für ihn zugleich Garant eines immer weiter zusammenwachsenden, friedlichen Europas.

Für sein Jurastudium verschlug es Mestmäcker 1946 nach Frankfurt am Main. Dort begegnete er erstmals Walter Hallstein und Heinrich Kronstein, vor allem aber Franz Böhm. Schon als junger Student nahm er an dessen wirtschaftsrechtlichen Seminaren zu Themen an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Recht teil. Hier diskutierten namhafte Vertreter beider Disziplinen über die künftige Ausrichtung der deutschen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Dass die Ökonomie als Grundbedingung rechtlicher Ordnung in jede rechtliche Problembewältigung einzubeziehen ist, hat Mestmäcker seit diesen frühen Tagen verinnerlicht – ebenso wie die parallele Erkenntnis der „Eigengesetzlichkeit des Rechts“.

In den wirtschaftsrechtlichen Seminaren von – und später mit – Franz Böhm hat Mestmäcker zugleich dessen wissenschaftliche Grundüberzeugungen aufgesogen: dass staatliche und private Macht gleichermaßen der rechtlichen Disziplinierung bedürfen; dass eine funktionsfähige Wettbewerbsordnung das wirksamste Instrument zur Bekämpfung privater Macht darstellt; dass Privatrecht insgesamt als dezentrale Koordinationsordnung zu denken ist, die sich auf der Grundlage der Wahrnehmung von Freiheitsrechten entfaltet. Zwischen Staat und Individuum steht damit die „Privatrechtsgesellschaft“ als eigene Regelungsebene. Für diese frühen Wegweiser ist Mestmäcker seinem akademischen Lehrer ein Leben lang dankbar geblieben. In seinen Erzählungen, nicht zuletzt in vielen Mestmäcker-Schüler-Symposien, war Böhm stets präsent. Die Einbindung in diese Tradition hat er nie als Einengung verstanden: Er hat sie vielmehr in ganz eigenständiger Weise weiterentwickelt und ist nicht selten über herkömmliche Lehren des Ordoliberalismus hinausgegangen. Für sich selbst hat er diesen Begriff nie in Anspruch genommen. In der Wissenschaft spricht man gelegentlich von einer „zweiten Generation“ des Ordoliberalismus.

Zunächst aber standen die Qualifikationsschriften an: 1953 wurde Mestmäcker mit einer Dissertation zu „Verbandsstatistiken als Mittel zur Förderung und Beschränkung des Wettbewerbs in den USA und Deutschland“ promoviert – einem durch eine Referendarstation bei der Dekartellierungsabteilung der amerikanischen Besatzungsbehörde (High Commission) inspirierten Thema. 1958 folgte eine konzernrechtliche Habilitation mit dem Titel „Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre“. Beide Arbeiten entstanden in Frankfurt am Main, waren rechtsvergleichend angelegt und mit längeren Forschungsaufenthalten in den Vereinigten Staaten verbunden. Die konsequente Einbeziehung der US-amerikanischen Rechtspraxis und Erfahrung im Umgang mit allgegenwärtigen Interessenkonflikten blieb ein prägendes Merkmal von Mestmäckers Forschung. Den transatlantischen Austausch hat er sein Leben lang gepflegt – ob im Rahmen von Gastprofessuren an der University of Michigan, Ann Arbor (1965, 1976, 2000), wo er eng mit seinem Freund Eric Stein verbunden war, oder später durch seine Mitwirkung in der sog. „Mentor Group“, die sich der Pflege des transatlantischen Austauschs zu praktischen politischen und wirtschaftspolitischen Themen verpflichtet hat.

Hätte Mestmäcker ein zweites akademisches Leben gehabt, so hätte er die Arbeit im Konzern- und Gesellschaftsrecht wohl gerne fortgesetzt. Auf die Habilitation folgten aber bereits 1959 der erste Ruf nach Saarbrücken und ab 1960 eine zehnjährige Tätigkeit als Sonderberater der Kommission für Wettbewerbspolitik und Rechtsangleichung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Brüssel.


2. Mestmäckers vocation européenne geht auf eine Begegnung mit Hans von der Groeben zurück, einem der Verfasser des sog. „Spaak-Berichts“ zur Vorbereitung eines gemeinsamen europäischen Marktes und damals neben Hallstein zweites deutsches Mitglied der EWG-Kommission. Die beiden lernten sich in Bonn bei einer Diskussion zu einer Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen im Bundesministerium für Wirtschaft kennen. Von der Groeben war von dem jungen Wissenschaftler so beeindruckt, dass er ihn als Sonderberater der EWG-Kommission für seinen Zuständigkeitsbereich Wettbewerb und Binnenmarkt nach Brüssel lotste. Von 1960 bis 1970 verbrachte Mestmäcker die Hälfte seiner Zeit an der Universität – zunächst in Saarbrücken, von 1963 an in Münster und ab 1969 in Bielefeld –, die andere Hälfte in Brüssel. Gemeinsam mit Generaldirektor Pieter VerLoren van Themaat und den Mitgliedern des Kabinetts von der Groeben hat Mestmäcker Schritt für Schritt die Grundprinzipien des Europäischen Wettbewerbsrechts und seiner öffentlichen Durchsetzung entwickelt. Ungeachtet ihrer ganz unterschiedlichen Ausgangspunkte einte alle Akteure die Überzeugung, dass die Wettbewerbsregeln nicht bloß als unverbindliche Leitlinien, sondern als verbindliche Rechtsregeln zu interpretieren seien. Zu den Themen, die Mestmäcker in dieser Zeit besonders beschäftigten, gehörten: die Ausarbeitung einer Verfahrensordnung zur Durchsetzung des Europäischen Wettbewerbsrechts durch die EWG-Kommission, die Ausgestaltung des Verhältnisses von europäischem und nationalem Wettbewerbsrecht, die Auslegung des Verbots eines Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen (der bis heute berühmte Fall Continental Can) sowie das Verhältnis von Industrie- und Wettbewerbspolitik und die Anwendung des Wettbewerbsrechts auf das Verhalten von Staaten (Art. 37 / Art. 106 AEUV). All diese Themen hat Mestmäcker später auch wissenschaftlich verarbeitet.

Mestmäckers Haltung zur EWG unterschied sich von der seines Lehrers Franz Böhm: Während dieser der EWG zunächst skeptisch gegenüberstand, weil er deren Ausrichtung an französischen Vorstellungen der Industriepolitik befürchtete, erkannte Mestmäcker früh das freiheitliche Potenzial des europäischen Rechts: Aus den staatsgerichteten Grundfreiheiten und den unternehmensbezogenen Wettbewerbsregeln ergab sich der Nukleus einer Wirtschaftsverfassung, welche die Europäischen Gemeinschaften zum Schutz offener Märkte und unverfälschten Wettbewerbs verpflichtete und ihrer eigenen hoheitlichen Intervention zugleich Grenzen setzte. Der vom BVerfG wiederholt betonten Offenheit der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes stand mit dem EWG-Vertrag eine dezidiert auf dezentrale Koordination ausgerichtete Rahmenordnung gegenüber. Zu den bleibenden Errungenschaften von Mestmäckers Schaffen zählt es, die europäische Wirtschaftsverfassung in ihren Grundprinzipien ausbuchstabiert und als kritischen Maßstab für die Entwicklungen des Unionsrechts seit den 1990er-Jahren entwickelt zu haben. Trotz allen Widerspruchs gegen die Politisierung der europäischen Verfassung, gegen eine instrumentelle Sichtweise auf den Wettbewerb unter dem Stichwort des „more economic approach“ und gegen das Wiedererstarken der Industriepolitik ist Mestmäcker sein Leben lang ein überzeugter, wenngleich streitbarer Europäer geblieben.


3. Mit seiner Tätigkeit als Sonderberater der EWG-Kommission war Mestmäcker früh in eine politikberatende Rolle eingetreten. Sein Selbstverständnis als Wissenschaftler war dadurch aber nie infrage gestellt. Nach dem Ende der Amtszeit von Hans von der Groeben als Kommissar trat auch Mestmäcker zurück und widmete sich nun wieder verstärkt seinem wissenschaftlichen Œuvre. Eine erste Frucht dieser Schaffensperiode war die 1974 erschienene Erstauflage seines „Europäischen Wettbewerbsrechts“ – die Quintessenz der im vorausgegangenen Jahrzehnt gesammelten Erfahrungen und eine Fortsetzung seiner Einflussnahme auf dieses Rechtsgebiet auf wissenschaftlicher Ebene. Andere Themen des Europäischen Wettbewerbsrechts – etwa die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf das Verhalten öffentlicher Unternehmen und Staaten – hat er in monographischer Tiefe in einer Kommentierung der Art. 37 / Art. 106 AEUV im „Immenga/Mestmäcker“ entwickelt, dem von ihm mitbegründeten „Flaggschiff“ der Kartellrechts-Kommentare.

Ein Versuch, sein vielfältiges kartellrechtliches Werk knapp zusammenzufassen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zu vermerken ist aber, dass Mestmäcker sich nicht nur mit dem europäischen, sondern auch mit dem deutschen Kartellrecht vertieft befasste. Hierfür steht etwa die Monographie „Der verwaltete Wettbewerb“ von 1984, in der er das Verhältnis von Kartell- und Lauterkeitsrecht auslotet. Der Titel des Werks ist zu einem viel zitierten Schlagwort geworden.

Obwohl ein Großteil von Mestmäckers Schriften im weiteren Sinne kartell- und europarechtliche Themen zum Schwerpunkt hat, wird seine Bezeichnung als Kartellrechtler seinem Werk nur unzureichend gerecht. Spätestens seit den 1970er/1980er-Jahren sind seine Schriften durch einen rechtsphilosophischen und einen rechtstheoretischen „undercurrent“ geprägt, die seinem Werk seitdem einen ganz eigenen, grundlegenden Charakter verleihen. Die Münsteraner Zeit markiert den Beginn einer verstärkten Beschäftigung mit der Rechtsphilosophie. Immanuel Kant – als Bezugspunkt – und Georg Wilhelm Friedrich Hegel – als Gegenpol – bildeten Mestmäckers Ausgangspunkt. Von hier aus hat er sich allmählich die Literatur der europäischen Aufklärung erschlossen. Seine konsequente Ablehnung des Utilitarismus hat er anhand der Lektüre von Jeremy Bentham entwickelt, dessen gedankliche Schärfe er zugleich bewunderte. Neben Adam Smith gehörte David Hume zu den Philosophen, deren Werk ihn besonders geprägt hat. Auch mit den Werken von Benjamin Constant und Isaiah Berlin hat er sich intensiv beschäftigt. Kennzeichnend für Mestmäckers Vorgehen war dabei der Mut zur „historischen Diskontinuität“: Die Werke der großen Aufklärer studierte er im Original, ohne ihre gesamte Rezeptionsgeschichte nachzuvollziehen. Ziel seiner rechtsphilosophischen Studien war es nicht, sich in laufende rechtsphilosophische und rechtstheoretische Debatten einzuschalten. Auf der Grundlage seiner genauen Kenntnis wirtschaftsrechtlicher und wirtschaftspolitischer Sachverhalte und der Vielfalt der das Rechtsleben prägenden Interessenkonflikte nutzte er die rechtsphilosophische Literatur vielmehr, um sich belastbarer Strukturprinzipien einer bürgerlichen Gesellschaft zu vergewissern. Diese Strukturprinzipien waren nie naturrechtlich gedacht. Vielmehr sind  sie in Einsichten in menschliches Verhalten, die Eigengesetzlichkeiten der Ökonomie und die Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit begründet.

In seinem Spätwerk ist Mestmäcker in derselben Weise mit den Schriften von John Rawls und Amartya Sen verfahren. Man kann ihn deshalb mit Fug und Recht als Rechtsphilosophen bezeichnen. Was seine Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie so besonders fruchtbar machte, war aber die ganz eigene Fragestellung und die Fähigkeit, Rechtsphilosophie nicht in Isolation, sondern stets in ihrem unmittelbaren Zusammenspiel mit konkreten wirtschaftsrechtlichen Fragen zu betreiben. Immer wieder ist Mestmäcker daher treffend als „Grenzgänger“ zwischen den Disziplinen bezeichnet worden: Neben Jura haben Ökonomie, Philosophie und Rechtstheorie sein Denken geprägt. Sein primäres Erkenntnisziel blieb, wie eine rechtliche Ordnung beschaffen sein muss, die der konfliktgeneigten Natur der Menschen und der Eigengesetzlichkeit des Ökonomischen Rechnung trägt und trotzdem den dezentralen und eigennützigen Gebrauch von Freiheitsrechten in den Mittelpunkt stellt.

Nach seiner Emeritierung als Direktor des Max-Planck-Instituts standen für Mestmäcker zwei Aufgaben im Vordergrund: eine Neuauflage des „Europäischen Wettbewerbsrechts“ und Studien auf dem Weg zu einer Privatrechtstheorie. Teilaspekte dieser Studien umfassten die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus, der auch den sog. „more economic approach“ anleitet – eine Neuausrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik seit Mitte der 1980er-Jahre, die auf eine Maximierung der Konsumentenwohlfahrt abzielt. Verschiedene Aufsätze und die Monographie „A Legal Theory without Law“ sind dieser Auseinandersetzung gewidmet. Zu einer monographischen Ausformulierung der eigenen Privatrechtstheorie – der logische nächste Schritt – ist es am Ende nicht mehr gekommen. Sie wäre zwangsläufig ein Gegenentwurf zu einem Zeitgeist geworden, der auf „Privatrecht als Regulierungsrecht“ bzw. eine Politisierung des Privatrechts setzt, also auf ein Privatrecht, das für wechselnde politische Zwecke in Dienst genommen wird.

Eine Würdigung von Mestmäckers wissenschaftlichem Werk wäre unvollständig ohne ein Wort zu seinem Stil. Deutschen Juristen wird häufig ein technokratischer Duktus nachgesagt. Mestmäckers Werk lässt sich dieser Vorwurf nicht machen. Es mutet mitunter fast literarisch an. Wenige juristische Texte dürfen für sich in Anspruch nehmen, „schön“ zu sein – Mestmäcker sind solche Texte immer wieder gelungen.


4. Mit seinem vielschichtigen Denken hat Mestmäcker Generationen von Nachwuchswissenschaftlern geprägt. Als markantestes Kennzeichen seines Selbstverständnisses als akademischer Lehrer mag dabei gelten: Die Freiheit, die er wissenschaftlich predigte, lebte er auch im Umgang mit seinen Doktoranden und Habilitanden. Freiheit und eine tiefe Abneigung gegen den Missbrauch privater Macht waren für ihn nie nur wissenschaftliche Schlagworte. Sie haben auch seinen persönlichen Umgang geprägt. Seine akademischen Schülerinnen und Schüler sind dementsprechend ganz unterschiedliche Wege gegangen. Ulrich Immenga, Wernhard Möschel, Peter Behrens, Reinhard Ellger, Volker Emmerich, Winfried Veelken und Heike Schweitzer haben – auf nationaler und europäischer Ebene – die Arbeit am Wettbewerbsrecht fortgesetzt. Dieter Reuter hat mit seinem Werk die Privatrechtstheorie vorangetrieben und eine eigene arbeitsrechtliche Schule begründet. Michael Becker und Rainer Kulms haben gesellschafts- und unternehmensrechtliche Themen aufgegriffen, wie später auch Brigitte Haar, die ursprünglich zum Recht der Telekommunikation geforscht hatte. Christoph Engel hat die Verbindung von Recht und Ökonomie zu seinem Lebensthema gemacht. Ungeachtet der unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen kann man von einer „Mestmäcker-Schule“ sprechen, geprägt durch die von ihm entwickelten Grundprinzipien.

Eine große Doktorandenschar hat Mestmäckers Einsichten und Überzeugungen darüber hinaus in die Wirtschaftspraxis getragen. Mestmäcker-Schülerinnen und -Schüler wirken an hohen und höchsten Gerichten an der Auslegung und Fortentwicklung des Wettbewerbsrechts mit, arbeiten als Anwältinnen und Anwälte im Kartell-, Wirtschafts- und Telekommunikationsrecht oder begleiten die Gesetzgebung in Landes- und Bundesministerien. Ihnen allen begegnete Mestmäcker mit großer Freundlichkeit, Menschlichkeit, Gelassenheit und Fairness. Bei Feierlichkeiten war er ein charmanter Gastgeber und herausragender Erzähler: Wohl allen haben sich auf diese Weise unzählige Anekdoten etwa über seine Zeit bei Franz Böhm eingeprägt. Neben dem freundlichen und zugewandten Lehrer lernten sie bei den regelmäßigen Treffen aber auch den streitbaren wissenschaftlichen Geist kennen, der Mestmäcker immer blieb: Für seine Überzeugungen hat er bis ins hohe Alter eine spitze Feder geschwungen.


5. Wie nur wenige andere trug Mestmäcker die Ergebnisse seiner Grundlagenforschung in die Rechts- und Wirtschaftspolitik hinein. Von seiner langjährigen Tätigkeit als Sonderberater der Europäischen Kommission in Brüssel war bereits die Rede. Hierzulande setzte er die Politikberatung in ganz verschiedenen Funktionen fort. So war er von 1960 bis 2006 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft. Von 1964 bis 1970 gehörte er der vom Bundestag eingesetzten Kommission zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk/Fernsehen und Film an. Von 1968 bis 1970 wirkte er in der Biedenkopf-Kommission zur Auswertung der Erfahrungen bei der Unternehmensmitbestimmung mit. Es folgten höchst einflussreiche Jahre als Gründungsvorsitzender der Monopolkommission von 1973 bis 1978. Später brachte er sich noch als Mitglied und von 2000 bis 2002 als Vorsitzender der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich ein. Schon früh hatte sich Mestmäcker überdies in der Hochschulpolitik engagiert und sogar auf das Wagnis eingelassen, eine neue Universität zu gestalten: Von 1967 bis 1969 war er Vorsitzender des Gründungsausschusses und Gründungsrektor der Universität Bielefeld.


6. Als Mestmäcker im Jahre 1979 mit Anfang fünfzig dem Ruf an das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht folgte, gehörte er bereits zu den ganz Großen seines Fachs. In Hamburg erschloss er der hergebrachten Privatrechtsvergleichung vollkommen neue Felder und Problemzugänge. Zu nennen ist zuvörderst ein visionäres Forschungsprogramm zum Wirtschaftsrecht der grenzüberschreitenden Telekommunikation, aus dem insgesamt vier Symposien und 25 Monographien zum Recht der Telekommunikation hervorgegangen sind. Das Projekt kam zur rechten Zeit: Wenige Jahre später begann auf europäischer Ebene die große Liberalisierung der Infrastruktursektoren, allen voran der Telekommunikation. Für diese fundamentale Umgestaltung hat Mestmäcker mit seinem Hamburger Projekt die Grundlagen bereitet. Außerdem ist er in seiner aktiven Direktorenzeit durch wegweisende Publikationen zum Gesellschafts-, Medien- und Urheberrecht hervorgetreten. Darüber hinaus vertiefte er in gemeinsamen Seminaren mit dem Hamburger Rechtsphilosophen Michael Köhler seine Studien zu Kant und anderen großen Denkern.

Auch in den Gremien der Max-Planck-Gesellschaft wirkte Mestmäcker an vorderer Stelle mit. Von 1981 bis 1993 war er ununterbrochen Mitglied des Senats. Als die Satzung eine abermalige Wiederwahl nicht mehr zuließ, wählte ihn die Mitgliederversammlung zum Ehrensenator. Noch arbeitsintensiver war Mestmäckers sechsjährige Amtszeit als Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft von 1984 bis 1990. In beiden Ämtern verteidigte er mit Entschlossenheit und Geschick die Autonomie der Gesellschaft gegen Begehrlichkeiten aus der Politik.


7. Zeugnis der enormen Wertschätzung und Bewunderung für Mestmäckers Lebenswerk sind hohe und höchste Ehrungen in Wissenschaft und Gesellschaft. Im Jahre 1980 wurde ihm der Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspolitik zuteil, 1984 der Ernst-Hellmut-Vits-Preis, 1997 der Hans-Martin-Schleyer-Preis, 2009 die Friedrich-August-von-Hayek-Medaille. Hinzu kommen Ehrendoktorwürden der Universität zu Köln 1980 und der Universität Bielefeld 2009. Die Bundesrepublik Deutschland zeichnete Mestmäcker 1981 mit ihrem Verdienstkreuz und 1997 mit ihrem Großen Verdienstkreuz mit Stern aus. 1994 wurde er in den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste gewählt.


8. Ernst-Joachim Mestmäcker ist am 22. April 2024 im Alter von 97 Jahren gestorben. Als großer Liberaler und ungemein produktiver Forscher hat er der Wissenschaft ein reiches Vermächtnis hinterlassen. Weite Teile dieses Vermächtnisses stehen in Spannung zu gegenwärtig dominanten Strömungen im Privatrecht – Politisierung, Industriepolitik, Privatrecht als Regulierungsrecht. Umso fruchtbarer bleibt auch heute die Auseinandersetzung mit Mestmäckers Werk als einem faszinierenden und tiefgründigen Gegenentwurf. Wer seine Aufsätze liest, taucht ein in die großen Themen und Konflikte, welche die Entwicklung des deutschen und europäischen Wettbewerbs- und Wirtschaftsrechts nach dem Zweiten Weltkrieg prägten – Konflikte, die mit großer Regelmäßigkeit, wenngleich nie in ganz gleicher Form, wiederkehren. Zugleich beeindrucken die Grundsätzlichkeit und Vielschichtigkeit seines Denkens. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft – das wusste Mestmäcker – ist kein linearer Prozess, sondern ein Kampf, der stets neu ausgefochten werden muss. Das von ihm gelegte Fundament stimmt zuversichtlich, dass die bürgerliche Gesellschaft lebt und gedeiht.


Heike Schweitzer, Berlin
Holger Fleischer, Hamburg

 

Der Nachruf wurde in Heft 2/2024 der Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (RabelsZ) gedruckt:
 

Holger Fleischer, Heike Schweitzer, Ernst-Joachim Mestmäcker, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 88 (2024), 215–222.

 



Heike Schweitzer ist am 11. Juni 2024 im Alter von 56 Jahren, unmittelbar nach Verfassen dieses Nachrufs und nur sieben Wochen nach dem Tod ihres akademischen Lehrers, verstorben. Sie war während ihrer Promotion Referentin an unserem Institut und erhielt für ihre Doktorarbeit die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft. Stationen als Professorin am European Law Institute in Florenz (2006–2010), der Universität Mannheim (2010–2014) und der Freien Universität Berlin (2014–2018) führten sie schließlich an die Humboldt-Universität zu Berlin (seit 2018). Ihr früher Tod hat unsere Institutsgemeinschaft tief erschüttert. Wir werden ihr ein ehrendes Andenken bewahren.

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