Geschlecht im Familienrecht – eine überholte Kategorie?

12. März 2024

Institutsdirektorin Anne Röthel ist Mitherausgeberin des Sammelbandes, in dem fünf Wissenschaftlerinnen die Bedeutung des Geschlechts im geltenden Familienrecht beleuchten. An vielen Stellen ist das Familienrecht heute geschlechtsneutral formuliert: Es ist die Rede von „Ehegatten“ und „Elternteilen“ anstatt von „Ehefrau“ und „Ehemann“. Anders ist es insbesondere im Abstammungsrecht, wenn dort zwischen Mutterschaft und Vaterschaft unterschieden wird. Die Autorinnen des Sammelbandes untersuchen, ob sich diese verbleibenden „Spuren des Geschlechts“ im geltenden Familienrecht legitimieren lassen.

Der Band ist aus dem sechsten Fachgespräch Familienrecht hervorgegangen, das unter der Leitung von Bettina Heiderhoff und Institutsdirektorin Anne Röthel 2023 an der Universität Münster stattfand.

In ihrem Beitrag befasst sich Anne Röthel mit der Bedeutung von Natur als Normbegründung für das Familienrecht. Sie stellt dar, wie sich vieles, was zunächst als „natürlich“ und daher als universell, dauerhaft und sicher gegeben schien, in der familienrechtswissenschaftlichen Rückschau als veränderlich und relativ erweist. In mehreren Fallstudien zur Entwicklung des Familienrechts unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs seit 1900 erläutert sie, wie Natur rhetorisch als Inbegriff von bestehender gesellschaftlicher Ordnung herangezogen wurde, um familienrechtliche Normen zu begründen. Und sie führt aus, wie Vorrechte, Privilegien und Gewaltbefugnisse des BGB von 1900 unter der Geltung des Grundgesetzes dann in langwierigen und konflikthaften Prozessen abgebaut wurden: Die neue normative Ordnung des Grundgesetzes löste die frühere „natürliche“ Ordnung ab. In einer Analyse der Entwicklungen im Umgang mit Transidentität beschreibt sie die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung von Normbegründungen, die auf wissenschaftlich überholten Vorstellungen über die menschliche Natur in biologischer, anatomischer und physiologischer Hinsicht fußten.

Vor diesem Hintergrund sind, so Röthel, zwei Haltungen von Rechtsordnungen im Hinblick auf die Verwendung der Kategorie Geschlecht denkbar: Man kann an der Kategorie Geschlecht festhalten oder man kann sie aufgeben und den Weg in ein postkategoriales Familienrecht gehen. Für ein postkategoriales Familienrecht spreche, dass Rechtsordnungen sich gar nicht erst dem Risiko aussetzten, Rechtsnormen auf eine Art und Weise zu legitimieren, die sich im Familienrecht des zwanzigsten Jahrhunderts als fehleranfällig erwiesen hat. Dagegenhalten ließe sich unter anderem, dass Geschlecht als Rechtskategorie inzwischen weniger problematisch sei, da das Geschlecht zu einem gewissen Grad wählbar geworden ist. Abschließend umreißt sie die Themen, die es weiter zu erforschen gilt: Es gehe darum, unbefangen und rückhaltlos aufzuklären, welche Funktion Geschlecht im geltenden Familienrecht (noch) hat, welche heute in der gesellschaftlichen Wahrnehmung plausibel legitimierbaren Anliegen sich nur durch geschlechtsspezifisches Recht verwirklichen lassen und welche Gestalt postkategoriales Familienrecht annehmen könnte.

 

Anne Röthel, Bettina Heiderhoff (Hrsg.), Geschlecht im Familienrecht – eine überholte Kategorie? (Schriften zum deutschen und ausländischen Familien- und Erbrecht, 39), Wolfgang Metzner Verlag, Frankfurt 2023, 230 S.

 

 




Bildnachweis:
© Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 

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