Art. 3: Leitlinien für Sachverständige




§ 1 Vorprüfung und Hinweise


1. Der Sachverständige hat, nachdem er angefragt wurde (→ Art. 2 § 5), unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist erledigt werden kann. Ist das nicht der Fall, so muss er das Gericht unverzüglich verständigen.

Rechtsgrundlage: § 407a Abs. 1 ZPO.


2. Der Sachverständige hat unverzüglich zu prüfen, ob ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Der Sachverständige hat dem Gericht solche Gründe unverzüglich mitzuteilen.

Rechtsgrundlage: § 407a Abs. 2 ZPO.

Erläuterung: Insbesondere bei Rechtsordnungen, mit denen sich in Deutschland nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Personen beschäftigt, kommt es häufig vor, dass der Sachverständige mit Parteivertreter*innen persönlich bekannt ist. Dies allein begründet nicht seine Befangenheit.


3. Hat der Sachverständige Zweifel an Inhalt und Umfang des Auftrages, so hat er unverzüglich eine Klärung durch das Gericht herbeizuführen. Erwachsen voraussichtlich Kosten, die erkennbar außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stehen oder einen angeforderten Kostenvorschuss erheblich übersteigen, so hat der Sachverständige rechtzeitig darauf hinzuweisen.

Rechtsgrundlage: § 407a Abs. 4 ZPO.

Erläuterungen: Die Folgen einer nicht angezeigten Unverhältnismäßigkeit regelt § 8a Abs. 3 JVEG. Zu den Folgen einer nicht angezeigten Überschreitung des Auslagenvorschusses siehe § 8a Abs. 3, 4 JVEG und → Art. 3 § 6 Ziff. 2.

Der Sachverständige braucht grundsätzlich nur einmal auf die Unverhältnismäßigkeit bzw. die Überschreitung hinzuweisen. Es ist Sache des Gerichts, die Höhe des angeforderten Kostenvorschusses unmissverständlich zu kommunizieren. Erkennt der Sachverständige nach Einholung eines zusätzlichen Kostenvorschusses, dass auch dieser nicht ausreichen wird, muss er einen weiteren Hinweis geben.


4. Der Sachverständige vollzieht die IPR-Prüfung des Gerichts nach (→ Art. 2 § 1). Kommt er zu der Auffassung, dass die Ermittlung ausländischen Rechts entbehrlich ist, weil der Fall deutschem Recht unterliegt, gibt er dem Gericht zur Vermeidung unnötiger Kosten einen entsprechenden Hinweis. Das Gleiche kann sich empfehlen, wenn das für die Bestimmung des anwendbaren Rechts maßgebliche Anknüpfungskriterium (z.B. der gewöhnliche Aufenthalt oder die Staatsangehörigkeit) nach Aktenlage ungeklärt ist.

Rechtsgrundlage: § 407a Abs. 4 ZPO.


5. Ebenso teilt der Sachverständige dem Gericht mit, wenn der Beweisbeschluss den unter → Art. 2 § 6 genannten Anforderungen widerspricht oder nicht klar verständlich ist.

Beispiele:

  • Der Sachverhalt ist sehr komplex und in vielen Punkten umstritten. Der Sachverständige bittet das Gericht um Mitteilung, von welchen Tatsachen er ausgehen soll.
  • Das Gericht fragt umfassend nach den Voraussetzungen eines Vertragsschlusses im englischen Recht. Der Sachverständige gelangt nach Studium der Akte zu der Einschätzung, dass nur eine bestimmte Teilfrage entscheidungsrelevant ist (z.B. die einer wirksamen Stellvertretung), und regt beim Gericht daher eine entsprechende Eingrenzung an. Alternativ kann der Sachverständige nach → Art. 3 § 1 Ziff. 7 vorgehen.


6. Der Sachverständige prüft, ob die zum ausländischen Recht gestellten Fragen der Entscheidung des Falles dienlich sind. Kommt er, insbesondere aufgrund seiner Kenntnis des ausländischen Rechts, zu der Einschätzung, dass andere Beweisfragen zielführender wären, gibt er dem Gericht einen Hinweis.

Beispiele:

  • Das Gericht fragt, ausgehend von deutschen Rechtsvorstellungen, nach Auskunftsansprüchen im ehelichen Güterrecht. Das anwendbare ausländische Ehegüterrecht kennt aber keine Auskunftsansprüche, sondern realisiert die Informationsbeschaffung auf andere Weise, z.B. durch erweiterte Ermittlungsbefugnisse des Gerichts. Der Sachverständige erläutert dies und weist das Gericht auf die Möglichkeit einer Anpassung hin.
  • Das Gericht fragt, ausgehend von deutschen Rechtsvorstellungen, nach den Regeln des englischen Rechts über die Abwicklung des ehelichen Güterstands im Falle der Scheidung. Der Sachverständige weist das Gericht darauf hin, dass das englische Recht ein Ehegüterrecht nach deutscher Art nicht kennt und eine Vermögensteilhabe der Ehegatten durch Unterhaltsleistungen sowie Vermögensübertragung realisiert werden kann. Möglich wäre hier auch ein Vorgehen nach → Art. 3 § 1 Ziff. 7.


7. Geringfügige oder offenkundig sachdienliche Abweichungen vom Beweisbeschluss kann der Sachverständige ohne Rücksprache mit dem Gericht vornehmen, wenn ihm dies unproblematisch erscheint und er sein Vorgehen im Gutachten erläutert (→ Art. 3 § 2 Ziff. 2).


8. Auch wenn keine entsprechende Pflicht besteht, empfiehlt es sich, dass der Sachverständige den Stundenaufwand für die Erstellung des Gutachtens vorab möglichst genau und realistisch schätzt und dem Gericht mitteilt (zu den Folgen der Überschreitung eines Auslagenvorschusses → Art. 3 § 6 Ziff. 2). Kann der Sachverständige das vom Gericht gesetzte Fertigstellungsdatum voraussichtlich nicht einhalten, teilt er das ihm mögliche spätere Datum mit. Der Sachverständige berücksichtigt bei der Zeitplanung eine etwaige besondere Eilbedürftigkeit (z.B. in Sorgerechtsstreitigkeiten oder bei Kindesentführung).


9. Da die Erstellung von Gutachten zum ausländischen Recht spezifische juristische und sprachliche Kenntnisse erfordert, ist eine Eingruppierung in die höchste Honorargruppe i.S.v. § 9 Abs. 1 JVEG Anlage 1 angemessen.

Rechtsprechung: OLG Dresden, Beschl. v. 23.1.2019 – 3 W 652/18, IPRspr 2019-350 (= NJW 2019, 1236).


10. In besonders gelagerten Fällen, etwa bei einem sehr hohen Streitwert oder einem sehr hohen, aber im genauen Umfang nicht prognostizierbaren Arbeitsaufwand, kann dem Sachverständigen unter den Voraussetzungen des § 13 JVEG eine von der gesetzlichen Regelung abweichende Vergütung zugesprochen werden.


11. Kann der Sachverständige den Auftrag nicht übernehmen, soll er nach Möglichkeit versuchen, dem Gericht durch informelle Hinweise weiterzuhelfen. Diese Hinweise können alternative Ansprechstellen, einschlägige deutschsprachige Literatur sowie fallrelevante Aspekte des internationalen und des ausländischen Privatrechts betreffen.


12. In der Kommunikation zwischen Gerichten und Sachverständigen ist das Telefonat erfahrungsgemäß oft deutlich zielführender als der schriftliche Weg.


§ 2 Allgemeine Ziele und Methoden des Gutachtens


1. Ziel des Gutachtens ist es, die im Beweisbeschluss gestellten Fragen so zu beantworten, dass das Gericht auf der Grundlage des ermittelten ausländischen Rechts eine eigene Sachentscheidung treffen kann (vgl. → Art. 2 § 2 Ziff. 1).

2. Ist der Beweisbeschluss nach Auffassung des Sachverständigen zu weit oder aus anderen Gründen nicht zielführend formuliert, regt er seine Änderung an. Ist der Sachverständige sich sicher, im Sinne des Gerichts und der Parteien zu handeln, kann er auch ohne Rücksprache mit dem Gericht vom Beweisbeschluss abweichen, etwa indem er Fragen umformuliert oder mangels Entscheidungsrelevanz offenlässt. In diesem Fall erläutert er sein Vorgehen im Gutachten.

Beispiele:

  • Das Gericht stellt verschiedene Fragen zu den Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs und ebenso zu dessen Verjährung. Der Sachverständige sieht, dass Verjährung eingetreten ist. Er zieht diese Frage deshalb vor und lässt die übrigen Fragen, deren Beantwortung sich sehr aufwendig gestalten würde, mangels Entscheidungsrelevanz offen. Er erläutert sein Vorgehen im Gutachten und stellt klar, dass auf Hinweis des Gerichts auch die weiteren Fragen noch beantwortet werden.
  • Nach wörtlicher Wiedergabe des Beweisbeschlusses folgt der Satz: „Der Sachverständige versteht die Frage des Gerichts in dem Sinne, dass es um […] geht.“


3. Einen vom Gericht mitgeteilten Sachverhalt (→ Art. 2 § 6 Ziff. 9) muss der Sachverständige seinem Gutachten zugrunde legen. Fehlt es an einer solchen Mitteilung und bittet der Sachverständige nicht um Nachreichung (vgl. → Art. 3 § 1 Ziff. 5), so ermittelt er den Sachverhalt eigenständig anhand der Akte und gibt ihn im Gutachten wieder (→ Art. 3 § 3 Ziff. 1). Das Gericht hat dann bei Erhalt des Gutachtens zu prüfen, ob der Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde.

4. Der Sachverständige hat das ausländische Recht nach Möglichkeit so zu ermitteln und darzustellen, wie es von Gerichten des betreffenden Landes angewendet wird bzw. angewendet würde. Dies bedeutet, dass er vorrangig die Gesetzestexte (soweit vorhanden) sowie einschlägige höchstgerichtliche und ggf. untergerichtliche Rechtsprechung auszuwerten hat, und zwar unabhängig davon, ob Gerichtsentscheidungen im betreffenden Land als Rechtsquelle angesehen werden. Soweit das nicht ausreicht, sind die gestellten Beweisfragen auf der Grundlage anderer Quellen zu beantworten, insbesondere Rechtsliteratur und Behördenpraxis. Bei alledem ist zu berücksichtigen, welches Gewicht geschriebenen Rechtsnormen, Rechtsliteratur und sonstigen Quellen bzw. Argumenten in der Praxis des ausländischen Rechts zukommt.

5. Zur Schließung von Erkenntnislücken oder zur Bestätigung gefundener Ergebnisse kann der Sachverständige Fachleute der betreffenden Rechtsordnung auf informellem Wege konsultieren. Auf diese Art erlangte Auskünfte sind im Gutachten kenntlich zu machen.

Beispiele:

  • Schriftliche Auskunft von Professorin Silvia Lopez von der Katholischen Universität Lima, Peru, vom 25.1.2021.“
  • „Mündliche Auskunft des Vorsitzenden des Ahmadiyya-Schiedsgerichts in Offenbach vom 3.7.2022.“


§ 3 Inhalt des Gutachtens


1. Das Gutachten legt zunächst den vom Gericht vorgegebenen (→ Art. 2 § 6 Ziff. 9) oder vom Sachverständigen aus der Akte ermittelten Sachverhalt (→ Art. 3 § 2 Ziff. 3) dar.


2. Ausführungen zum ausländischen Recht erfolgen nur insoweit, wie sie entscheidungsrelevant oder zum Verständnis erforderlich sind. Auf schmückendes Beiwerk, etwa in Gestalt längerer historischer Ausführungen, ist zu verzichten. Abstrakt gestellte Beweisfragen (vgl. → Art. 2 § 6 Ziff. 5) werden vom Sachverständigen auf das aus seiner Sicht Wesentliche reduziert.

Beispiel: Wurde nach den tunesischen Regeln der gesetzlichen Erbfolge gefragt und sind im vorliegenden Fall Erben der ersten Ordnung vorhanden, bedarf es keiner Erörterung der nachfolgenden Erbordnungen oder im konkreten Fall nicht einschlägiger Regelungen über Eintrittsrechte.


3. Im Gutachten sind die Primär- und Sekundärquellen, auf die es gestützt ist, möglichst vollständig anzugeben und, sofern es auf den Wortlaut ankommt, im Originaltext wiederzugeben. Bei nichtgängigen Sprachen (im Zweifel allen Sprachen außer Englisch) sollte eine deutsche Übersetzung der Texte angefügt werden. Soweit möglich, sollte für beide – Originaltext und Übersetzung – auf offizielle Quellen rekurriert werden, die dann auch benannt werden. Greift der Sachverständige auf eine andere als eine offizielle Übersetzung zurück, sollte er dies begründen.


4. Sofern hinreichende Quellen nicht gefunden werden konnten, gibt das Gutachten an, wo und wie danach gesucht wurde.


5. Die Subsumtion des Sachverhalts unter das ausländische Recht ist Aufgabe des Gerichts und nicht des Sachverständigen (→ Art. 2 § 9 Ziff. 1). Soll der Sachverständige laut Beweisbeschluss das ausländische Recht fallbezogen ermitteln (→ Art. 2 § 6 Ziff. 6) und ist der Sachverhalt unstreitig bzw. vom Gericht vorgegeben, kann es sich zur Vermeidung von Missverständnissen oder Unsicherheiten jedoch empfehlen, dass der Sachverständige mitteilt, zu welchem Ergebnis sein Gutachten im konkreten Fall führt.

Beispiele:

  • Kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die fragliche Rechtsordnung einen Verkäufer für bestimmte Arten von Zusagen über die Eigenschaften der Kaufsache haften lässt, wird in der Regel das Gericht besser als der Sachverständige beurteilen können, ob die im konkreten Fall vom Verkäufer gemachten Aussagen die geforderten Voraussetzungen erfüllen. Zu dem Fall, dass von der Beantwortung einer Beweisfrage die Relevanz weiterer Beweisfragen abhängt, → Art. 3 § 3 Ziff. 7.
  • Stehen in einem Erbfall die Verwandtschaftsverhältnisse fest, legt der Sachverständige nicht nur die abstrakten Erbregeln der betreffenden Rechtsordnung dar, sondern führt auch aus, zu welchem Ergebnis sie im konkreten Fall führen („Die Ehefrau ist Erbin zu 1/4, der Sohn Erbe zu 3/4“).


6. Lassen sich dem ausländischen Recht mit vertretbarem Aufwand keine eindeutigen Antworten auf die gestellten Fragen entnehmen, legt der Sachverständige diese Unsicherheit offen und gibt nach Möglichkeit eine auf seine Erfahrung und rechtsvergleichende Einschätzung gestützte Prognose darüber ab, wie ein Gericht der betreffenden Rechtsordnung entscheiden würde.


7. Sieht der Sachverständige, dass die Entscheidungsrelevanz nachgeordneter Beweisfragen davon abhängt, wie das Gericht bestimmte vorgeordnete Beweisfragen beurteilt, so kommen zwei Vorgehensweisen in Betracht: Zum einen kann der Sachverständige das Gericht zunächst um Klärung der vorgelagerten Fragen bitten (ggf. auf der Grundlage eines Teilgutachtens), zum anderen kann er die Prüfung alternativ aufbauen. Welche Vorgehensweise sich empfiehlt, richtet sich nach den Umständen des Falles unter Berücksichtigung der in → Art. 1 § 2 genannten Ziele.

Beispiel: Die Frage, ob das englische IPR in einem Erbfall auf das deutsche Recht zurückverweist, hängt davon ab, ob der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes weiterhin sein englisches „domicile of origin“ oder vorher in Deutschland sein „domicile of choice“ begründet hatte. Die Antwort auf diese Frage erfordert die Gewichtung bestimmter objektiver und subjektiver Faktoren und kann nur vom Gericht gegeben werden.

Ob der Sachverständige in diesem Fall zunächst eine Klärung der Frage des „domicile“ herbeiführt oder im Gutachten beide Varianten abhandelt, hängt insbesondere vom Umfang der Ausführungen ab, die zum englischen Sachrecht zu machen wären. Sind sie kurz und unproblematisch, empfiehlt es sich, das Gutachten „in einem Aufwasch“ zu erledigen. Wären die Ausführungen zum englischen Sachrecht hingegen zeit- und kostenintensiv, sollte zunächst ihre Entscheidungsrelevanz geklärt werden.


8. Der Sachverständige sollte grundsätzlich die Weitergabe des Gutachtens zur Verwendung in anderen Verfahren gestatten und nur die Bedingung stellen, dass die Urheberschaft ordnungsgemäß kenntlich gemacht und das Gutachten vollständig und unverändert weitergegeben wird.

Erläuterung: Insbesondere Gerichte sollten die Möglichkeit haben, Gutachten zum ausländischen Recht zu sammeln und bei Bedarf intern weiterzugeben. Zu beachten ist freilich, dass Gutachten durch nachfolgende Rechtsänderungen obsolet werden können. Sachverständige trifft hierfür keine Verantwortung, sondern allenfalls eine Hinweispflicht.


§ 4 Behandlung des in Deutschland geltenden IPR im Gutachten


1. Da das in Deutschland geltende IPR nicht Gegenstand eines vom Gericht eingeholten Gutachtens sein kann (→ Art. 1 § 1), brauchen Sachverständige im Regelfall keine Ausführungen hierzu zu machen, auch wenn sie die IPR-Prüfung des Gerichts nachvollziehen sollen (→ Art. 3 § 1 Ziff. 4). Verschiedene Ausnahmefälle sind im Folgenden genannt; in diesen sollten Ausführungen zum inländischen IPR knapp gehalten und Meinungsstreitigkeiten dem Gericht zur Entscheidung überlassen werden.


2. Kommt es zur Bestimmung des anwendbaren Sachrechts auf das ausländische IPR an (insbesondere im Fall einer möglichen Rück- oder Weiterverweisung, vgl. → Art. 2 § 1 Ziff. 3), so wird es zur besseren Verständlichkeit in der Regel sachdienlich sein, die Frage des anwendbaren Rechts vollständig zu behandeln und daher das Gutachten mit dem in Deutschland geltenden IPR zu beginnen, das auf das ausländische IPR verweist.


3. Ausführungen zum in Deutschland geltenden IPR können ferner dann sachdienlich sein, wenn der Sachverständige Grund zu der Annahme hat, dass Gericht und Parteien einen wichtigen Aspekt übersehen könnten, z.B. ein Qualifikationsproblem oder eine versteckte Übergangsvorschrift (zu Qualifikationsfragen schon → Art. 2 § 1 Ziff. 2).

Beispiele:

  • Das Gericht geht offensichtlich davon aus, dass sich die Ersatzfähigkeit von Prozesszinsen nach dem anzuwendenen ausländischen Deliktsrecht (lex causae) bestimmt. Der Sachverständige weist darauf hin, dass auch eine prozessuale Qualifikation und damit die Anwendung deutschen Rechts in Betracht kommt.
  • Der Sachverständige weist darauf hin, dass es in komplizierten Schadensfällen in Betracht kommt, bestimmte Aspekte prozessual zu qualifizieren und damit über § 287 ZPO zu lösen.


4. In der Regel unvermeidbar sind Ausführungen zum in Deutschland geltenden IPR, wenn seine korrekte Anwendung nicht losgelöst von dem zu ermittelnden ausländischen Sachrecht erfolgen kann. Dies kann insbesondere bei Fragen der Qualifikation der Fall sein.

Beispiel: Die Frage, ob die „institution contractuelle“ des französischen Rechts als Erbvertrag oder als Schenkung unter Lebenden zu qualifizieren ist, kann nicht ohne Vorgriff auf die Zwecke und Funktionsweise dieses Rechtsinstituts beantwortet werden.


§ 5 Sonderfälle der Aufgabenabgrenzung


1. Auslegung von Rechtsgeschäften: Ist Gegenstand des Beweisbeschlusses die Auslegung eines Rechtsgeschäfts (z.B. eines Vertrags oder Testaments) nach einem ausländischen Recht, so beschränkt sich der Sachverständige grundsätzlich auf die Darlegung der abstrakten Regeln und Prinzipien, da deren Anwendung auf den konkreten Vertrag als Subsumtionsfrage dem Gericht obliegt (→ Art. 3 § 3 Ziff. 5). Er soll allerdings auch nach passenden oder jedenfalls verwandten Präzedenzfällen in der ausländischen Rechtsprechung suchen und ggf. deren Bedeutung für das Auslegungsergebnis erläutern. Die Ermittlung und Beurteilung evtl. relevanter subjektiver Vorstellungen der Erklärenden ist als Tatsachenfrage Aufgabe des Gerichts.


2. Mitverschulden: Ist Gegenstand des Beweisbeschlusses ein etwaiges Mitverschulden des Geschädigten, so beschränkt sich der Sachverständige grundsätzlich auf die Darlegung der abstrakten Regeln und Prinzipien und überlässt deren Anwendung auf den konkreten Fall und insbesondere die Bestimmung konkreter Haftungsquoten dem Gericht. Er soll allerdings auch nach passenden oder jedenfalls verwandten Präzedenzfällen in der ausländischen Rechtsprechung suchen und ggf. deren Bedeutung für die Bestimmung der Haftungsquoten erläutern.


3. Schmerzensgeld: Ist Gegenstand des Beweisbeschlusses ein Anspruch auf Schmerzensgeld oder den Ersatz anderer immaterieller Schäden, gilt das zum Mitverschulden (Ziff. 2) Gesagte entsprechend.


4. Gerichtliches Ermessen: Stellt das ausländische Recht die Gewährung des geltend gemachten Anspruchs ganz oder teilweise in das gerichtliche Ermessen, erläutert der Sachverständige die Maßstäbe bzw. Kriterien, nach denen die Gerichte des betreffenden Landes dieses Ermessen ausüben. Ebenso sucht er nach passenden oder jedenfalls verwandten Präzedenzfällen.


5. Subsumtion durch den Sachverständigen: In den in Ziff. 1–4 genannten und ähnlichen Fällen können Sachverständige eine eigene Einschätzung abgeben, bei gleichzeitiger Klarstellung, dass der Entscheidung des Gerichts hierdurch nicht vorgegriffen wird (→ Art. 3 § 3 Ziff. 5).


6. Angriffs- und Verteidigungsmittel: Zwecks Wahrung ihrer Unparteilichkeit erläutern Sachverständige im ausländischen Recht vorgesehene Angriffs- und Verteidigungsmittel oder daraus resultierende Handlungsoptionen der Parteien grundsätzlich nur insoweit, wie im Beweisbeschluss danach gefragt ist. Hat die fehlende Aufnahme in die gerichtliche Fragestellung ihren Grund allerdings in der unzureichenden Kenntnis des ausländischen Rechts, geben sie einen Hinweis (vgl. → Art. 3 § 1 Ziff. 6).

Beispiele:

  • Fragt der Beweisbeschluss ausdrücklich nur nach vertraglichen Ansprüchen, anstatt offen zu fragen (→ Art. 2 § 6 Ziff. 3), geht der Sachverständige nicht auf außervertragliche Ansprüche ein, auch wenn sie im konkreten Fall begründet wären. Ist allerdings die ausländische Rechtsordnung so strukturiert, dass sie Schadensposten, die das deutsche Recht dem Vertragsrecht zuweist, über andere Instrumente ersatzfähig macht, z.B. solche des Deliktsrechts, regt der Sachverständige eine Erweiterung des Beweisbeschlusses an.
  • Stellt der Sachverständige fest, dass der geltend gemachte Anspruch aus einem bestimmten Grund einredebehaftet sein könnte (z.B. wegen Verjährung), führt er dies nur insoweit aus, wie das Verteidigungsmittel von der Fragestellung erfasst ist. Sieht das ausländische Recht allerdings ein Verteidigungsmittel vor, das im deutschen Recht nicht bekannt ist und nach dem das Gericht deshalb auch nicht fragen konnte, gibt der Sachverständige einen Hinweis. Dabei ist zu beachten, dass die subtile Unterscheidung zwischen Einreden, die geltend gemacht werden müssen, und Einwendungen, die von Amts wegen zu beachten sind, im ausländischen Recht oft nicht oder nicht in gleicher Form existiert.
  • Fragt das Gericht im Rahmen eines Anspruchs auf Herausgabe des Veräußerungserlöses danach, ob die Verfügung eines Nichtberechtigten nach ausländischem Recht wirksam war, weist der Sachverständige nicht von sich aus darauf hin, dass das ausländische Recht dem Eigentümer auch die Möglichkeit gibt, die Verfügung des Nichtberechtigten zu genehmigen und dadurch dem Anspruch auf den Veräußerungserlös zur Entstehung zu verhelfen.


7. Ordre public: Ob das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts aus deutscher Sicht gegen den Ordre public verstößt, ist eine Frage des deutschen Rechts und somit vom Gericht zu beantworten. Der Sachverständige thematisiert die Frage nur insoweit, wie es zu ihrer Beantwortung auf Details des ausländischen Rechts ankommt (z.B. auf den Zweck der in Rede stehenden ausländischen Regelung). Ebenso kann der Sachverständige Stellung nehmen zu Möglichkeiten, das ausländische Recht im Einklang mit dem deutschen Recht auszulegen oder ggf. für den konkreten Fall fortzubilden.


§ 6 Überschreitung des vorgesehenen Zeit- bzw. Kostenrahmens


1. Erkennt der Sachverständige, dass er den zugesagten Fertigstellungstermin nicht einhalten kann, informiert er unverzüglich das Gericht und teilt einen neuen Fertigstellungstermin mit.


2. Erkennt der Sachverständige, dass er den eingezahlten Auslagenvorschuss erheblich überschreiten wird, informiert er unverzüglich das Gericht (siehe auch → Art. 3 § 1 Ziff. 3). Anderenfalls erhält er die Vergütung nur in Höhe des Auslagenvorschusses.

Rechtsgrundlage: § 8a Abs. 4 JVEG.

Erläuterung: Eine erhebliche Überschreitung liegt nach Ansicht des Gesetzgebers und der Rechtsprechung ab einem Wert von 20–25% vor (siehe BT-Drs. 17/11471 (neu), 260; OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.10.2022 – 12 W 32/22, BeckRS 2022, 32993; LG Dortmund, Beschl. v. 20.5.2021 – 9 T 112/21, BeckRS 2021, 14054).

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