Gerechtigkeit im Sport

Gerechtigkeit im Sport

Symposium des Forums für Internationales Sportrecht

  • Datum: 11.11.2019
  • Uhrzeit: 17:00

Das 12. Symposium des Forums für internationales Sportrecht – eine gemeinschaftliche Initiative des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg und des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in München – fand am 11. November 2019 in Hamburg statt.

Das diesjährige Forum beschäftigte sich zum einen mit dem Thema der „Gerechtigkeit im Sport“ an sich und zum anderen ganz konkret mit der Reform der Fußball-Regel 12 („Handregel“) durch das International Football Association Board (IFAB) im März 2019. Die Chancengerechtigkeit ist – zumindest im Leistungssport – zwingende Voraussetzung eines jeden Wettkampfs; denn der Sinn des Leistungssports liegt darin, dass im Rahmen der geltenden Spielregeln die leistungsstärkste Mannschaft siegreich ist. Durch die Reform der Regel 12 wurde das abstrakte Absichtskriterium um konkrete Regelbeispiele ergänzt. Ziel dieser Regeländerung war es, die Handentscheidung zu vereinfachen und dem Schiedsrichter objektive Anhaltspunkte an die Hand zu geben.

Einführung durch Institutsdirektor Reinhard Zimmermann
Der Geschäftsführende Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Professor Dr. Reinhard Zimmermann, eröffnete das Symposium. Zimmermann begann mit Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Zufall im Fußball. Einerseits sei zwar stets von „Gerechtigkeit im Sport“ und „ungerechten“ oder „gerechten“ Ergebnissen die Rede. Andererseits sei Fußball ein Spiel, dessen Ergebnisse von Glück und Unglück und damit letztlich von Zufällen abhängig sind. Insbesondere im Vergleich zu anderen Ballsportarten sei die Bedeutung des Zufalls im Fußball groß, was an der geringen Anzahl an Toren und der eingeschränkten Feinmotorik des Fußes liege. Interessant sei zudem ein Vergleich mit dem Rugby. Im Rugby würden Schiedsrichterentscheidungen so gut wie stets akzeptiert. Auf dem Fußballplatz hingegen würden Schiedsrichter häufig offen kritisiert oder gar körperlich bedrängt. Zimmermann plädierte daher dafür, die Fehlbarkeit des Schiedsrichters zu akzeptieren, statt eine ausufernde Regelungsdogmatik zu entwickeln. Letztlich handele es sich beim Fußball um ein Spiel, zu dem in gewissem Maße auch Zufälle gehören, was zum Reiz des Spiels beitrüge.

Hauptvortrag von Hans Christoph Grigoleit, Ludwig-Maximilians- Universität München
Professor Dr. Hans Christoph Grigoleit betonte zunächst die große soziale Relevanz der Handspielregel, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik rechtfertige. Seinen Vortrag gliederte er in drei Teile. Zunächst setzte er sich mit den vorpositiven Rahmenbedingungen der Handspielregelung auseinander. Der maßgebliche Grund für das Verbot des Handspiels im Fußballsport liege in dem spezifischen feinmotorischen Potenzial der Hände. Kein anderes Körperteil sei im Umgang mit dem Ball so leistungsfähig wie diese. Der Ausschluss des Handspiels sei daher notwendig, um den Fußball von anderen Ballsportarten wie dem Rugby oder dem Handball zu unterscheiden.

Als Kernproblem der Handregel im Fußball machte Grigoleit den Aspekt der Absichtlichkeit aus. Das spezifische feinmotorische Potenzial der Hand könne sich im Spiel nur dann auswirken, wenn der Handeinsatz willensgesteuert, also absichtlich erfolge. Bei der Absicht handele es sich jedoch um einen rein subjektiven Vorgang, der nur aufgrund mittelbarer Indizien festgestellt werden könne. An eindeutigen Indizien, die auf eine Absicht schließen lassen, fehle es jedoch regelmäßig. Zusätzlich müssten Entscheidungen durch den Schiedsrichter auf dem Platz schnell getroffen werden und auch Laien müssten zur Beurteilung einer Handsituation in der Lage sein. Auch die Einführung des Videoassistenten ändere an dieser Ausgangssituation nichts, da auch der Videoassistent lediglich ein Abbild der objektiven Spielsituation zur Verfügung habe und aufgrund mittelbarer Indizien über die Handsituation entscheiden müsse.

Aus dieser Problematik folgerte Grigoleit, dass es einer Handregelung bedürfe, die aufgrund objektiver Merkmale eine möglichst einfache, schnelle und wenig fehleranfällige Entscheidung über das Vorliegen von Absicht erlaube. Übersetzt in die juristische Methodik bedeute dies, dass die Handregel Typisierungen und Vermutungen enthalten müsste, anhand derer der Entscheider regelhaft aus objektiven Umständen auf die subjektive Einstellung des Spielers schließen könne. Eine Regelung, nach der jeder Handkontakt automatisch als Handspiel gewertet werde, sei jedoch nicht denkbar. Ansonsten wäre es möglich, durch ein bewusstes Anspielen der Hand einen Freistoß oder Elfmeter zu erwirken.

In dem folgenden, zweiten Teil seines Vortrags wendete sich Grigoleit der jüngst reformierten Fußballregel 12 zu. Neben der abstrakten Absichtsregel wurden nun auch positive Regelbeispiele hinzugefügt, wann von einem Handspiel auszugehen ist. Diese Regelbeispiele ordnete Grigoleit als Typisierungen ein, anhand derer das Absichtskriterium objektiviert werde. Zugleich betonte er, dass diese, da es sich eben nur um Regelbeispiele handele, auch widerlegbar sein müssten, wenn die Berührung erkennbar unabsichtlich zustande gekommen sei. Mit Blick auf die Prinzipien der IFAB begründete Grigoleit, dass Absicht insbesondere dann nicht gegeben sei, wenn der Spieler erkennbar nicht das Risiko eingehen wollte, den Ball zu berühren. Das sei beispielsweise bei offenkundiger Handspielprovokation der Fall oder wenn der Ball zuvor mit hoher Geschwindigkeit abgeprallt ist. Gleichzeitig stellte Grigoleit heraus, dass auch negative Regelbeispiele eingefügt wurden, wann typischerweise trotz Berührung der Hand kein Handspiel vorliege. Auch die Funktion der negativen Regelbeispiele sah er darin, das Absichtsmerkmal zu typisieren.

Eine signifikante Neuerung sah Grigoleit darin, dass die Fußballregel 12 nun – unabhängig von Absicht – immer dann ein Handspiel vorsehe, wenn auf den Handkontakt ein Tor oder eine Torchance folge. Die Begründung dieser Regel durch die IFAB-Prinzipien, es dürfe nicht sein, dass im Fußball ein Tor durch die Hand zustande komme, hielt Grigoleit für zirkulär. Da schließlich auch mit anderen Körperteilen Tore erzielt werden dürften, stelle diese Regel eine Fiktion, also eine unwiderlegliche Vermutung, für das Vorhandensein von Absicht dar. Auf diese Weise solle ausgeschlossen werden, dass beim Torschuss, dem neuralgischen Moment des Spiels, die besondere Feinmotorik der Hand nutzbar gemacht werden könne.

In seinem dritten Teil unterzog Grigoleit die neuen Handregeln einer kritischen Würdigung. Zweifel äußerte er daran, ob die neue Fußballregel 12 mit ihrem komplizierteren Zusammenspiel aus Absichtskriterium und Regelbeispielen nicht nur für professionelle Schiedsrichter, sondern auch für Laien umsetzbar sei. Zudem sah er einen Wertungswiderspruch darin, dass zwar das Herbeiführen eines Tors oder einer Torchance („objektives Offensivhandspiel) immer als Hand gewertet werde, das Verhindern eines Tors („objektives Defensivhandspiel“) aber nicht. Für stimmiger hielte Grigoleit es, auch in Fällen des „objektiven Offensivhandspiels“ eine Ausnahme zuzulassen, wenn offensichtlich ist, dass die Berührung ohne Absicht zustande kam. Er schlug zur Verbesserung vor, die Regelbeispiele einfacher zu formulieren und dabei den Maßstab der Absicht stärker hervorzuheben. In Fällen der „Hand Gottes“, also des bewussten Herbeiführens eines irregulären Tores mit der Hand, sollte die Sanktion – so Grigoleit – nicht bloß ein Strafstoß, sondern der Platzverweis sein.

Kommentar von Felix Brych, Schiedsrichter des Deutschen Fußball-Bundes
Dr. Felix Brych, der 2017 zum „Weltschiedsrichter des Jahres“ gekürt wurde, beleuchtete die Schwierigkeiten der Handregel aus der Sicht eines erfahrenen Praktikers. Anhand von Bildbeispielen verdeutlichte Brych, wie schwierig es sein kann, in Grenzsituationen von der äußeren Betrachtung auf Absicht zu schließen. Durch die zunehmende Übertragung von Fußballspielen und die Einführung des Videoassistenten nehme nunmehr auch die Bedeutung des äußeren Erscheinungsbilds und der Druck auf den Schiedsrichter zu.

Die neu eingefügten Regelbeispiele dienten seiner Meinung nach dazu, diese praktischen Schwierigkeiten zu verringern. Kernelement des Handspiels sei auch nach den neuen Regeln die Absicht. Die einzige Ausnahme hiervon sei die Regel für Handsituationen vor Torschüssen, die Grigoleit zuvor als „objektives Offensivhandspiel“ bezeichnet hatte. Dort habe sich der Regelgeber bewusst für eine rein objektive Handdefinition entschieden, um in diesen spielentscheidenden Situationen unfaire Ergebnisse zu vermeiden und – insbesondere nach Einführung des Videoassistenten – klare Entscheidungen zu ermöglichen. Insgesamt begrüßte Brych die neu eingeführten Regelbeispiele sowie die Einführung des „objektiven Offensivhandspiels“. Die Entscheidungsfindung des Schiedsrichters werde dadurch erheblich erleichtert und für die Spieler besser nachvollziehbar.

Kommentar von Christian Deckenbrock, Präsidiumsmitglied des Deutschen-Hockey- Bundes
Dr. Christian Deckenbrock ist Rechtswissenschaftler an der Universität zu Köln und erfahrener Hockey-Schiedsrichter. In seinem Vortrag widmete er sich insbesondere der Frage der Gerechtigkeit im Sport und der Einführung des Videoassistenten im Fußball. Deckenbrock betonte, dass sich vollständige Gerechtigkeit im Sport nie herstellen lasse. Der Schiedsrichter habe häufig einen Beurteilungsspielraum, in dem es keine eindeutig richtige oder falsche Entscheidung gebe. Zudem sei selten erkennbar, inwiefern sich Fehlentscheidungen des Schiedsrichters tatsächlich auf das Endergebnis auswirkten. Die konkrete Entscheidung sei daher weniger eine Frage der Gerechtigkeit als eine des Glücks und Zufalls. Dass sich dies auch nach Einführung des Videoassistenten nicht ändere, liege auch daran, dass der Videoassistent nur bei eindeutigen und offensichtlichen Fehlentscheidungen eingreife.

Deckenbrock resümierte, dass die Einführung des Videoassistenten im Fußball seiner Ansicht nach zu einem deutlichen Rückgang der Fehlentscheidungen geführt habe. Nichtsdestotrotz seien Schiedsrichterentscheidungen weiterhin umstritten und führten in der Öffentlichkeit zu Unzufriedenheit. Die Möglichkeiten des Videoassistenten seien begrenzt, so Deckenbrock. Schließlich greife der Videoassistent nur im Fall einer offensichtlichen und klaren Fehlentscheidung ein. In bestimmten Spielsituationen, wie der Verhängung einer gelb-roten Karte, dürfe der Videoassistent überhaupt nicht eingreifen.

Zur Verbesserung der Situation schlug Deckenbrock vor, Nachbesserungen am Regelwerk vorzunehmen. Ein höheres Maß an Gerechtigkeit könnte durch mehr Transparenz erreicht werden. Schiedsrichterentscheidungen sollten vermehrt im Nachhinein durch eine Schiedsrichterkommission bewertet werden und der Funkverkehr zwischen Schiedsrichter und Videoassistenten sollte in Echtzeit veröffentlicht werden. Zudem schlägt Deckenbrock vor, das Eingreifen des Videoassistenten von einer challenge der Teams abhängig zu machen. Die Teams könnten dann selbst entscheiden, ob sie die Schiedsrichterentscheidung überprüfen und damit eine ihrer challenges verbrauchen wollen.

Insgesamt sah Deckenbrock in der Einführung des Videoassistenten jedoch eine positive Entwicklung, die zu einer deutlichen Verringerung der eindeutigen Fehlentscheidungen beigetragen habe. Man dürfe an den Videoassistenten jedoch keine überhöhten Erwartungen haben. Entscheidungen mit subjektivem Einschlag, wie über das Vorliegen von Absicht bei Handberührungen, blieben auch weiterhin ermessensabhängig.

Kommentar von Gunter Gebauer, Sportwissenschaftler, Philosoph und Linguist
Professor Dr. Gunter Gebauer, Professor für die Philosophie des Sportes, analysierte die neuen Handregeln aus philosophischer und sprachwissenschaftlicher Perspektive. Gebauer äußerte sich zunächst zu den Möglichkeiten der juristischen Methodik bei der Beurteilung von Fußballregeln sowie zu den durch die IFAB neu eingefügten Regelbeispielen. Dabei betonte er, dass es sich bei den Handregeln um Spielregeln und nicht um rechtliche Normen handele, weswegen die juristische Methodik bei der Auslegung nur begrenzt anwendbar sei. Die neu eingeführten Regelbeispiele, wie das „unnatürliche Vergrößern des Körpers“, seien für das Verständnis der Handregel ebenfalls wenig hilfreich. Dabei handele es sich lediglich um Hilfsbegriffe, die zu einer Verlagerung der Problematik führten. Eine „Vergrößerung des Körpers“ sei schließlich nicht möglich und Körperbewegungen könnten – je nach Situation – natürlich oder unnatürlich sein.

Im Anschluss untersuchte der Philosoph – ähnlich wie zuvor Grigoleit aus juristischer Perspektive – den Sinn der Handregel im Fußballspiel. Historisch, so Gebauer, habe die Handregel ihre Wurzeln im England des 19. Jahrhunderts. Während dort zunächst ein einheitliches Vorgängerspiel von Fußball und Rugby gespielt wurde, führte die Einführung des Handverbots zur Entstehung des Fußballs und das Erlauben des hackling zur Herausbildung des Rugbys als eigenständige Sportart. Die Handregel sei daher von konstitutiver Bedeutung für den Fußballsport. Trotz dieser konstitutiven Bedeutung sei der Einsatz der Hände und Arme, beispielsweise für das Gleichgewicht der Spieler, essentiell. In Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour sieht Gebauer ein regelwidriges Handspiel dann als gegeben an, wenn sich die Hand als Akteur oder „als Mitspieler“ am Spiel beteiligt. Als Akteure sieht Gebauer Körperregionen an, die dem Ball qualifiziert eine Bewegungsrichtung geben können. Legitime Akteure seien neben den Füßen auch der Bauch, die Beine und die Brust. Davon abzugrenzen sei die „intentionslose Körpermasse“ wie der Rücken, der dem Ball nur unqualifiziert, durch „Abprallen“ eine Richtung geben könne. Den Sinn der Handregel sieht Gebauer darin, die Hand als Akteur im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie vom Spiel auszuschließen. Der Ausschluss der Hand führe zu einer künstlich erworbenen Primitivität, die das Fußballspiel erst faszinierend mache und die Spieler dazu zwinge, mit dem Rest ihres Körpers umso geschickter umzugehen. Ein Handspiel liege daher immer dann vor, wenn die Hand zum „Mitspieler“ wird, indem sie dem Ball aktiv eine Richtung gibt. Die aktive Beteiligung der Hand müsse von einem zufälligen, passiven „Beteiligtwerden“ abgegrenzt werden, beispielsweise wenn der Ball an die Hand springt. Diese an der Common-Sense-Philosophie ausgerichtete Betrachtungsweise ermögliche es Schiedsrichtern und Spielern, so Gebauer, intuitiver zu beurteilen, wann in Fällen des Handspiels Absicht vorliegt.

Offene Diskussion im Anschluss
Im Anschluss an die vier Vorträge eröffnete Professor Dr. Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, die Diskussion zwischen den Referenten und dem Publikum. Thematisch wurde dabei unter anderem die Frage diskutiert, inwiefern juristische Dogmatik auf die Analyse von Fußballregeln Anwendung finde könne. Gebauer vertrat dabei die Auffassung, der Fußball folge, da es sich bei ihm um ein Spiel handele, keiner juristischen Logik. Ein Schiedsrichter sei nicht mit einem Richter zu vergleichen. Grigoleit hingegen betonte, dass es sich auch bei Fußballregeln funktional um Normen handele. Bei der Auslegung von Fußballregeln sei zwar der spezielle Kontext des Sports zu berücksichtigen. Sie seien jedoch mit den Instrumentarien der juristischen Auslegung zu bewältigen.

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