Dekoloniale Rechtsvergleichung

Dekoloniale Rechtsvergleichung

Unsere Moderne hat sich, bewusst oder unbewusst, vor dem Hintergrund der Kolonialität gebildet, der sie als dunkle Kehrseite begleitet. Diese Hintergründe aufzuspüren und nach Möglichkeit ihre negativen Folgen zu überwinden, ist ein Postulat in vielen wissenschaftlichen Disziplinen. Institutsdirektor Ralf Michaels will in einem langfristig angelegten Projekt einen solchen Schritt für die Rechtsvergleichung gehen.

Seit fast hundert Jahren widmet sich die Forschung am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht der Rechtsvergleichung. Durch sie sollen unterschiedliche Rechte besser verstanden und die internationale Rechtsvereinheitlichung, etwa im Rahmen der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen, unterstützt werden. Die Rechtsvergleichung hat sich dabei immer selbst als kosmopolitische und moderne Disziplin betrachtet, im Gegensatz zur Engstirnigkeit nationalen Rechtsdenkens.

Damit wird aber häufig eine Hierarchie zwischen modernem, europäisch-nationalstaatlichem Recht einerseits und dem als weniger modern empfundenen Recht anderer Staaten und Gesellschaften andererseits verankert. Oft geschieht das unbewusst, wie zum Beispiel bei der Orientierung der Rechtsvergleichung an staatlichem Recht. „Die Anknüpfung an den Nationalstaat und die Bevorzugung säkularen Rechts gegenüber religiösem Recht sind problematische Denkmuster“, sagt Institutsdirektor Ralf Michaels. Dem auf die Welt angewandten Universalismus modernen Rechtsdenkens will er ein Bewusstsein für Pluriversalität entgegensetzen, die Anerkennung unterschiedlicher Denkmodelle. Dazu ist es nötig zu untersuchen, inwieweit unser Rechtsdenken von Kolonialität geprägt ist, also von einer durch die Kolonialisierung geprägten Denkweise.



„Kolonialität ist nicht auf die neuzeitliche Epoche des Kolonialismus beschränkt, sondern beschreibt eine totalisierende und universalisierende Denkweise, die der Moderne zugrunde liegt."

– Ralf Michaels –

Im Rahmen eines langfristig angelegten Projekts will er die Rechtsvergleichung dekolonialisieren, gleichzeitig aber die dekolonialisierte Rechtsvergleichung ihrerseits für ein neues Rechtsdenken insgesamt heranziehen. Gemeinsam mit Lena Salaymeh, British Academy Global Professor an der Universität Oxford und ehemalige wissenschaftliche Referentin am Institut, hat er das Forschungsprojekt „Decolonial Comparative Law“ ins Leben gerufen.

Lösung vom universalisierenden Denken der Moderne

Etablierte Vorstellungen davon, was überhaupt als Recht anzusehen ist, werden heute nicht nur in wissenschaftlichen Debatten, sondern auch vor Gericht infrage gestellt, wenn Streitparteien präkoloniales oder indigenes Recht geltend machen. „Kolonialität ist nicht auf die neuzeitliche Epoche des Kolonialismus beschränkt, sondern beschreibt eine totalisierende und universalisierende Denkweise, die der Moderne zugrunde liegt“, sagt Ralf Michaels. „Präkoloniale Rechtstraditionen sind selbst da, wo sie bekannt sind, häufig von der Sprache der Kolonisierung überformt. Wir wollen sie anhand primärer Quellen freilegen, um sie in ihrer Eigenständigkeit und ihrem soziokulturellen Kontext zu beleuchten. Und wir wollen feststellen, inwiefern auch westliche Rechtsinstitute, wie etwa das Eigentum oder die Ehe, von einer bestimmten Idee von Moderne und Kolonialität geprägt sind.“

Wissenschaftliche Impulse aus dem Globalen Süden

Als entscheidend für das Projekt sehen Ralf Michaels und Lena Salaymeh die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen des Globalen Südens. Zum Auftakt wurde im Oktober 2020 gemeinsam mit der Witwatersrand-Universität in Johannesburg ein Online-Workshop abgehalten, dessen Ergebnisse 2022 publiziert werden sollen. Das pandemiebedingt gewählte Format hat sich als vorteilhaft erwiesen, da es die Teilnahme einer größeren Anzahl von Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Regionen ermöglichte. Der für September 2022 gemeinsam mit der Universität Oxford geplante Folgetermin wird daher als hybrider Workshop durchgeführt.

Ein Kernelement des Projekts ist eine digitale Plattform, die unter https://www.mpipriv.de/dekoloniale-rechtsvergleichung frei abrufbar ist. Sie bietet unter anderem Zugang zu zwei laufend aktualisierten Bibliographien zu dekolonialer Rechtswissenschaft und dekolonialer Theorie.

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